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Kommentar: Der Zeitgeist der „Kurden“ und Atatürk im Lichte der Gegenwart

Ein TV-Beitrag der "ttt" in der ARD hat am vergangenem Sonntag die Geschehnisse von 1937 und 1938 in der türkischen Provinz Tunceli (Dersim) behandelt. Unter dem Titel „Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ“ wurde in der TV-Sendung behauptet, wie unter Einsatz von Giftgas aus Deutschland angeblich "Aleviten" ermordet wurden. Das ist schlichtweg Irreführung der öffentlichen Meinung und ein Schlag ins Gesicht der "alevitischen" Minderheit in der Türkei. Ein Kommentar.

(Foto: Screenshot/TRT Haber)
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Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

Ein TV-Beitrag der „ttt“ in der ARD hat am vergangenem Sonntag die Geschehnisse von 1937 und 1938 in der türkischen Provinz Tunceli (Dersim) behandelt. Unter dem Titel „Wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ“ wurde in der TV-Sendung behauptet, wie unter Einsatz von Giftgas aus Deutschland angeblich „Aleviten“ ermordet wurden. Das ist schlichtweg Irreführung der öffentlichen Meinung und ein Schlag ins Gesicht der „alevitischen“ Minderheit in der Türkei. Vor allem ist es eine unwissenschaftliche und nicht objektive Herangehensweise.

In der Türkei und in Deutschland hat der TV-Bericht deshalb für Furore gesorgt und wie ich finde zurecht. Etliche türkische Historiker, Journalisten und Politiker in der Türkei sprechen von Propaganda, die nun aus Deutschland los getreten werde, nach dem es vor Jahren in der Türkei geradezu ausgeschlachtet wurde. Man kann es Propaganda nennen, zumal die Echtheit der zitierten Audioquelle, angeblich vorhandener echter Dokumente oder die Oralhistorie innerhalb der Familien nicht verifizierbar ist oder bewusst aus dem Kontext gerissen wird. Aber zurück zur TV-Sendung:

Max Moor, der Moderator der TV-Sendung, beginnt auch gleich damit, das sogenannte „rückständige“ Osmanische Reich durch Atatürk in die Moderne führen zu lassen. Dabei habe laut Moor Atatürk z.B. die religiösen Führer entmachtet. Moor hat wohl noch nicht begriffen, dass die Moderne längst auch die Fälscher in der Türkei erreicht hat, dass die Moderne derzeit vom Weltklima bedroht wird, der einzige klimaneutrale Staat auf der Erde das „rückständige“ Bhutan ist und nicht das Moderne Deutschland; so leicht kann man sich also irren. Und man irrt sich auch in anderen Themen:

Der wohl entscheidenste Punkt der TV-Sendung bezieht sich auf ein sogenanntes Dokument, das angeblich aus dem türkischen Staatsarchiv stammen soll. Was einem auf Anhieb nicht auffällt, weil ja die Ungeheuerlichkeit einen fesselt, ist, dass die Unterschrift des „Reisi Cumhur“, also des Staatspräsidenten Atatürk auf vielen Heckpartien von Modernen Fahrzeugen klebt. Außerdem ist es doch fast schon merkwürdig, dass die Unterschriften der vielen Minister und Kabinettsmitglieder in den vielen sogenannten „echten“ Dokumenten eins zu eins gleichen. Man muss nur die Suchmaschine Google anschmeißen, um etliche solcher Dokumente mit Haar-gleichen Unterschriften zu finden, die sich exakt gleichen. Wie viele Fälschungen, die angeblich aus dem türkischen Staatsarchiv stammen sollen, will man eigentlich noch auftischen?

Ich erhebe also den Vorwurf, dass das besagte Dokument nicht echt ist, dass dieses Dokument wie mit vielen anderen Dokumenten seit Jahren kursieren, die angeblich dies oder das beweisen sollen. Es ist doch fast schon sicher woher oder aus welcher Ecke dieses Dokument wieder einmal entsprungen ist.

Vor Jahren wurde der groteske Vorwurf schon einmal medial ausgesprochen, die türkische Armee habe Giftgas gegen die Bewohner von Tunceli eingesetzt, man habe dabei die hitlerische Hilfe in Anspruch genommen. Damals waren es sogenannte Journalisten der PKK-nahen Propagandamaschinerie. 2011 setzte dann der Journalist der AKP-nahen „Yeni Şafak“ Yaşar Taşkın Koç unter Verwendung des Dokuments, die „ttt“ ja nun erneut aufgetischt hat, erneut das Gerücht, die heute die Schlagzeilen füllen. Dann, 2014, fällt in diesem Zusammenhang in den türkischen Medien auch der Name des „Dersimer“ Hasan Saltık, der erneut irgendwelche Dokumente vorlegt, aus der hervorgehen soll, dass die türkische Armee Giftgas eingesetzt habe.

Bis heute ist nicht erwiesen, dass die für die Vorwürfe verwendeten Dokument, die „ttt“ selbstbewusst ebenfalls zu Felde anführt, echt sind bzw. aus dem türkischen Archiv stammen. Hunderte türkische Historiker aller ideologischer Richtungen müssen offenbar blind gewesen sein, diese historisch wichtigen Dokumente zu übersehen. Man muss schon ziemlich ideologisch verblendet sein, um dem etwas abzugewinnen.

Zum anderen kann ein einziges Dokument nicht beweisen, dass die türkische Regierung das Giftgas aus Deutschland erworben und auch einsetzen ließ. Man müsste mitunter auch die deutschen Archive durchforsten und sicherstellen, ob denn diese angeblich von der Türkei angeforderte Giftgas-Lieferung erfolgte, ob sie und wo sie vermutlich eingesetzt wurden. Es stellt sich auch die Frage, wie man es damals bewerkstelligt hat, Giftgas-Bomben für Flugzeuge zielgenau auf Höhlen abzuwerfen, ohne dabei Kollateralschäden in Kauf zu nehmen, zumal ja genau das offenbar „bestellt“ wurde; und keine Mörsergranaten mit Giftgas, die ihren Zweck vielleicht erfüllen könnten.

Es ist doch hinlänglich bekannt, dass die damaligen chemischen Kampfstoffe nicht effizient oder im Umgang sehr unsicher waren, was den zielsicheren Einsatz anbelangt. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob denn so etwas zu damaliger Zeit möglich war, ob die Lieferung aus Deutschland tatsächlich erfolgte und ob es ein Kampfpilot im Jahre 1937/1938 geschafft hat, eine Bombe zielgenau auf einen Höhleneingang in einer unwegsamen Region abzuwerfen.

Auf der anderen Seite – sollten die Vorwürfe je zutreffen – muss man sich auch vergegenwärtigen, welcher Zeitgeist damals in Zusammenhang mit Giftgas herrschte. Jetzt in Schnappatmung zu geraten, ist unwissenschaftlich und nicht objektiv. Nach dem Ersten Weltkrieg sah man es in den USA als ein „höchst effektiven und zugleich humansten aller Waffen“ an, wenn man von Giftgas sprach.

Der britische Kriegsminister Winston Churchill meinte zu jener Zeit gar: „Ich verstehe die Zimperlichkeit bezüglich des Einsatzes von Gas nicht. Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen“, wobei er von der arabischen Bevölkerung im Irak, aber auch den Kurden in Sulaimaniyya sprach. Bis heute hält sich hartnäckig der Verdacht, dass die britische Armee in den Gefangenenlagern auf der Halbinsel Sinai türkische Soldaten mit Giftgas- bzw. Giftbädern zum erblinden brachte. Offenbar wurden sie als lebende Versuchsobjekte für neue chemische Kampfmittel missbraucht.

Zuerst einmal muss man verstehen, dass in der Türkei das Thema „Dersim“ bzw. „Kurden-Aufstände“ seit Jahrzehnten wissenschaftlich, politisch wie medial, öffentlichkeitswirksam behandelt wird. Hier so zu tun, als seien die „kurdischen“ Aufstände ein Tabuthema in der Türkei, ist absurd und entbehrt jedweder Grundlage.

Bereits kurz nach der Niederschlagung des Tunceli-Aufstands waren etliche türkische Abgeordnete darum bemüht, die Umstände und das Leid der Bevölkerung in Tunceli aufzuklären bzw. zu lindern, die durch die Kämpfe verursacht wurden. Vielleicht sollte „ttt“ das mal beherzigen, anstatt so zu tun, als sei die junge Republik stets bestrebt gewesen, unter allen Umständen über „Leichen“ zu gehen und zu versuchen jedwede wissenschaftliche wie öffentliche Debatte im Keim zu ersticken.

Mustafa Kemal Atatürk ist der Gründer der türkischen Republik, ja! Er ist kein Übervater und auch kein Übermensch. Dieser Nationalstaat hat, wie der deutsche TV-Sender ARD diesmal in diesem Punkt richtigerweise festgestellt hat, eine Sprache, eine staatlich gelenkte Religion und viele ethnische Völker vereint. Was Anatolien bzw. die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg und während des Befreiungskampfes bis weit in das Jahr 1938 entzweite, war, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs verschiedenen Stammesführern und religiösen Oberhäuptern Unabhängigkeit oder einen Nationalstaat versprachen, während man den Vertrag von Sèvres formulierte.

Das ist deshalb wichtig, weil manche sogenannten „Experten“ wie der Essener Prof. Burak Copur den Türken insgesamt Nationalismus vorwerfen, als sogenannte Opfer die Koçgiris oder Seyit Rızas Gefolgschaft anführen. Dabei waren doch diese Stammesführer und religiösen Oberhäupter jene selbst, die sich von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs etwas wie einen Nationalstaat bzw. Souveränität erhofften und Hilfen forderten und auch bekamen. Was der exportiere Nationalismus aus Europa in den betroffenen Ländern verursachte, kann man mitunter noch immer im Balkan bewundern.

Es ist doch kein Geheimnis mehr, dass im November 1920, also zu Beginn des türkischen Befreiungskampfes, diese religiösen und ethnisch-nationalen Stammesführer in İmranlı zusammen kamen, um ihre nationalistischen Ziele zu formulieren und zu konkretisieren. Am 8. Dezember 1920 forderten die Führer der Koçgiri dann in einem Telegramm an Mustafa Kemal Pascha die Einrichtung eines unabhängigen Kurdistans. Es sollte die Provinzen Diyarbakir, Mamuret ül-Aziz, Van und Bitlis umfassen. Sie beriefen sich dabei auf den Vertrag von Sèvres und drohten offen mit Waffengewalt. Wenn das kein Nationalismus ist, was dann?

Die provisorische Regierung in Ankara stand nun massiv unter Druck; auch gewollt von den Siegermächten. Um nicht an mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen, entschied sich das türkische Nationalparlament in Ankara, sich erst mit dem Stamm der Koçgiri zu beschäftigen, das Aufbegehren in „Dersim“ unter dem Stammes- und religiösen Oberhaupts Seyit Rıza vorerst einmal zu ignorieren. Es ging also nicht explizid um „Kurden“ oder „Aleviten“ bzw. „Zazas“, sondern nur um die Durchsetzung der stattlichen Autorität gegenüber kleinen Machtgefügen, die die Staatsmacht in Abrede stellten.

Der Koçgiri-Aufstand wurde trotz mehrfacher und vorheriger Appelle und dringlicher Vermittlungsversuche innerhalb des türkischen Parlaments an kurdische Nationalisten der „Gesellschaft für den Aufstieg Kurdistans“ Mitte Juni 1921 dann vorerst niedergeschlagen, um sich danach der Front gegen die griechische Besatzungsarmee zu widmen.

Damit war zwar der Stamm der Koçgiri und die nationalistische „Gesellschaft für den Aufstieg Kurdistans“ während des Befreiungskrieges gegen die griechische, britische, französische und italienische Besatzungsarmee vom Tisch, der weitaus mächtigere Oberhaupt Seyit Rıza stellte aber weiterhin eine Gefahr für die noch sehr junge Republik dar, was sich auch bald herausstellen sollte.

Deshalb sollte sich das Kulturmagazin des ARD „ttt – titel, thesen, temperamente“ doch bitteschön den damaligen Zeitgeist vergegenwärtigen, um diese Art von Konflikt zu verstehen. Da stehen sich zwei ideologische Gleichgesinnte gegenüber: einmal der türkische Nationalstaatsgedanke der sich aus der Asche des Osmanischen Reiches erhebt und zum anderen der kurdische Nationalstaatsgedanke, der sich aus Feudalherren und religiösen Oberhäuptern zusammensetzt und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Letztere hatten auch andere Beweggründe, um Aufstände gegen die Ankaraner Regierung anzuzetteln: die bedrohte Stellung als Oberhaupt, wirtschaftliche Erwägungen, die gepflegte Vielweiberei oder der Analphabetismus, um das untergeordnete Volk weiterhin beherrschen zu können.

Es ist doch völlig absurd, dass gerade die selbsternannten „Sozialisten“, „Liberalen“ oder „Linken“ eine öffentliche Debatte anzetteln, dessen Kernthema sich doch auf Nationalismus, Feudalismus oder religiösen Fanatismus bezieht. Es ist bezeichnend dafür, wie grotesk die hiesige Debatte angestoßen wird, um die türkische Geschichte nach eigenen Maßstäben und aus dem Zeitkontext herausgerissen neu zu bewerten.

Dabei ist doch längst bekannt, wer diesen Feudalismus und diese Stammesstrukturen Ende der 60er Jahre mit bekämpft, dann aber seit Ende der 90er Jahre den völkischen Nationalismus wiederentdeckt hat: der Führer der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan. Das sich nun gerade jene hervorheben, die diese patriarchalisch-religiöse Strukturen klammheimlich in Abrede stellen – da wird doch die Audio-File eines türkischen Ministers tatsächlich genau darin verkürzt wiedergegeben – oder nicht erwähnen, zeigt doch, auf welchen Pfaden sich diese Herrschaften bewegen, um ihren Nationalismus unbehelligt weiterhin frönen zu dürfen. Es ist der Irrwitz der „kurdischen“ Geschichtsschreibung schlechthin, sich gerade auf solche Herrschaften einzulassen – und die ARD lässt sich dafür auch noch instrumentalisieren oder verfolgt sie dabei gar eine eigene Agenda?

Dienen solche TV-Sendungen eigentlich nun der Aufklärung oder der Verblödung? Der öffentlich-rechtliche TV-Sender ARD hätte sich nicht einseitig mit „Experten“ eindecken dürfen, um diese These in die Welt zu setzen, die die AKP-nahe „Yenisafak“, die PKK-nahe „Özgür Gündem“ vor Jahren schon einmal in die Welt gesetzt hat und seither einen Beweis schuldig blieb. Zudem, böse Zungen würden ja behaupten, dass man hier mit aller Macht versucht Parallelen zur Nazi-Zeit zu ziehen um das deutsche Gewissen zur erleichtern. Nun ist die Shoah mit 6 Millionen vergasten Juden eben kein kleines Delikt wie die Niederschlagung einer nationalistisch-kurdischen Aufstandsbewegung.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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