Start Politik Deutschland Bundestagswahlen Wie Muslime bei den Bundestagswahlen gewählt haben

Bundestagswahlen
Wie Muslime bei den Bundestagswahlen gewählt haben

Während frühere Untersuchungen eine Beteiligung von etwa 65 Prozent unter Deutschen mit Migrationshintergrund nahelegen, gehen Experten für die Bundestagswahl 2025 von einem Anstieg aus

(Symbolfoto: nex24)
Teilen

Von Yasin Baş

Das Wahlverhalten muslimischer Wählerinnen und Wähler in Deutschland rückt zunehmend in den Fokus politischer Analysen. Studien und Experteneinschätzungen zeigen, dass sie häufiger linke Parteien bevorzugen. Doch welche Faktoren beeinflussen ihre Entscheidung?

In Deutschland leben schätzungsweise 5,5 Millionen Muslime, von denen rund drei Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Damit bilden sie nach den Christen die zweitgrößte religiöse Gruppe im Land. Nach aktuellen Berechnungen sind etwa 2,6 Millionen Muslime wahlberechtigt, doch ihre tatsächliche Wahlbeteiligung variiert.

Während frühere Untersuchungen eine Beteiligung von etwa 65 Prozent unter Deutschen mit Migrationshintergrund nahelegen, gehen Experten für die Bundestagswahl 2025 von einem Anstieg aus. Insgesamt wird geschätzt, dass Muslime rund 4,2 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland ausmachen. Mit einer insgesamt hohen Wahlbeteiligung, die zuletzt mit 82,5 Prozent einen neuen Höchststand erreichte, stellt sich die Frage, welchen Einfluss muslimische Wählerinnen und Wähler auf das Wahlergebnis haben könnten.

Welche Parteien muslimische Wähler bevorzugen

Bei den Bundestagswahlen führte das Meinungsforschungsinstitut Forschungsgruppe Wahlen eine umfangreiche Befragung im Auftrag des ZDF durch. Insgesamt gaben knapp 50.000 Menschen an, welcher Partei sie ihre Zweitstimme gegeben hatten. Wie viele Muslime an der Umfrage teilnahmen, wurde jedoch nicht ausgewiesen, was die Aussagekraft der Ergebnisse in Bezug auf diese Gruppe einschränken könnte.

Dennoch lassen sich aus der Erhebung klare Tendenzen im Wahlverhalten muslimischer Wählerinnen und Wähler ableiten. Sie neigen weiterhin überwiegend zu linken und linksliberalen Parteien. Die Partei Die Linke erreichte mit 29 Prozent die meisten Stimmen in dieser Gruppe, dicht gefolgt von der SPD mit 28 Prozent.

Das BSW, das auf Bundesebene knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, kam unter muslimischen Wählern auf 16 Prozent. Die Union erhielt zwölf Prozent, während die AfD auf sechs Prozent kam. Die Grünen kamen auf vier Prozent, und die FDP schnitt mit drei Prozent am schwächsten ab.

Soziale Fragen spielten eine wichtige Rolle

Der bemerkenswerte Zuspruch aus muslimischen Wählerkreisen für die Partei Die Linke lag laut Elif Eralp, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus und Beauftragte für migrantische Diversität, insbesondere an der sozialen Ausrichtung des Wahlkampfs ihrer Partei.

Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt die gelernte Juristin:

„Die Linke hat sich im Wahlkampf auf die sozialen Fragen fokussiert – auf die steigenden Lebensmittelpreise und die explodierenden Mieten sowie auf die Bekämpfung des Rechtsrucks – das kam auch bei vielen muslimischen Wählern gut an, da sie von diesen Fragen besonders betroffen sind.“

Die Partei habe sich als konsequenter Gegner von Rassismus und Diskriminierung positioniert und setze sich gezielt für die Interessen von Geflüchteten und Migranten ein.

„Wir sind die Partei, die an der Seite der Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte steht. Wir sind der Gegenpol zur rassistischen und antimuslimischen AfD“, betont sie.

Ein weiterer Grund für die Zustimmung sei laut Eralp, dass Die Linke als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien die Schaffung eines Beauftragten für muslimisches Leben fordert. Zudem setze sich die Partei für gezielte Maßnahmen gegen antimuslimischen Rassismus auf Bundesebene ein.

Zudem erklärt Prof. Burak Gümüş von der Trakya-Universität in Edirne im Gespräch mit NEX24 die überdurchschnittliche Unterstützung der Mitte-Links-Parteien durch Muslime in Deutschland wie folgt:

„Sowohl links-säkulare als auch konservativ-religiöse Muslime mit traditionellen Familien- und Geschlechterrollen bevorzugen möglicherweise die Linke und die SPD, weil beide Parteien sozialstaatliche Konzepte vertreten, migrationsfreundliche Programme haben und sich klar gegen Fremdenfeindlichkeit sowie einen weiteren Rechtsruck positionieren.“

Diese Faktoren könnten, so der Politikwissenschaftler, „dazu geführt haben, dass insbesondere Einwanderer und Angehörige sozial schwächerer Schichten verstärkt diese Parteien wählen – trotz Unzufriedenheit mit der Ampelregierung, Irritationen über die uneingeschränkte Solidarität mit Israel und der anhaltenden Wirtschaftskrise.“

Taktische Stimmabgabe: Warum muslimische Wähler von den Grünen zur SPD wechselten

Der Wissenschaftler hält angesichts der Wahlprognosen und des sich vor den Wahlen abzeichnenden Erfolgs der AfD sowie der CDU/CSU ein taktisches Wahlverhalten ebenso für möglich. Prof. Gümüş sagt, dies könnte dazu geführt haben, dass Wähler, die eine offene Migrationspolitik befürworten, statt der schwächelnden Grünen verstärkt Parteien wählten, die sich klar gegen einen Rechtsruck positioniert hätten – insbesondere die Linkspartei und die SPD.

„Vor allem für muslimische Wähler, die zuvor die Grünen unterstützt hatten, könnte die SPD attraktiver gewesen sein. Sollte es zu einer Neuauflage der Großen Koalition mit der CDU kommen, hätte die SPD die Möglichkeit, als Koalitionspartner eine Vetoposition gegen migrationsfeindliche Maßnahmen der von Friedrich Merz geführten Union einzunehmen.“

Diese Aussicht könnte einige frühere Grünen-Wähler dazu bewogen haben, ihre Stimme stattdessen den Sozialdemokraten zu geben, so der Wissenschaftler, der in Radolfzell am Bodensee geboren ist.

Nahostkonflikt spielte wichtige Rolle bei Wahlentscheidung

Die Haltung der Parteien zum Nahostkonflikt scheint ebenfalls Einfluss auf die Wahlentscheidung muslimischer Wähler gehabt zu haben. Prof. Gümüş weist darauf hin, dass das BSW zwar in der Migrationspolitik eine restriktivere Linie, ähnlich wie die AfD und teilweise die CDU vertritt.

„Dennoch unterscheidet sich das BSW in einem zentralen Punkt: Als einzige Partei trat es offen und entschieden gegen das von den USA und Deutschland unterstützte israelische Vorgehen in Gaza auf und verwendete dabei explizit den Begriff ‚Genozid‘.“

Und weiter: „Dieser klare Kurs könnte bei vielen muslimischen Wählern – unabhängig von ihrer politischen Orientierung – auf Zustimmung gestoßen sein“, so Gümüş. Der zweifache Familienvater verdeutlicht außerdem, dass auch Wagenknechts kritische Haltung gegenüber „Cancel Culture“ und „Wokeness“ konservative Muslime überzeugt haben könnten, „die sich von der bisherigen rot-grün-liberalen Politik in Familien- und Geschlechterfragen sowie von der als einseitig empfundenen Nahostpolitik abgewandt haben“.

Auch die Partei Die Linke hatte im Hinblick auf den Krieg in Nahost eine eindeutige Linie verfolgt. Elif Eralp erklärt, dass sich ihre Partei frühzeitig auf die Seite des Völkerrechts gestellt habe und die israelische Regierung für ihr Vorgehen im Gazastreifen kritisiere.

„Die Linke hat sich in der Frage des Kriegs in Palästina und Israel früh deutlich auf der Seite des Völkerrechts positioniert und die extrem rechte Regierung Netanjahus für ihre Kriegsverbrechen in Gaza kritisiert und von der Bundesregierung einen Stopp der Waffenlieferungen an die israelische Regierung gefordert“, so die Politikerin.

Muslimische Wähler der AfD: Angst vor neuer Migration als Motiv?

Die Unterstützung der AfD durch muslimische Wähler sieht Prof. Gümüş, der auch zu deutsch-türkischen Beziehungen sowie Migration und Integration forscht, vor allem in einem migrationskritischen Sicherheitsgefühl begründet.

Ein Teil dieser Wähler stamme aus etablierten Migrantenkreisen, die – ähnlich wie Teile der Mehrheitsgesellschaft – den Zuzug neuer Geflüchteter, insbesondere aus Syrien und Afghanistan, als Bedrohung wahrnehmen.

Sie teilten die Ablehnung gegenüber ausländerbezogener Gewalt und Extremismus und könnten die Rhetorik der AfD als primär gegen irreguläre Neuankömmlinge gerichtet verstehen. Zudem habe die Partei gezielt Arbeitsmigranten mit deutschem Pass angesprochen, was ihre Unterstützung in diesen Kreisen gestärkt haben könnte.

Andererseits beobachtet Prof. Osman Can Ünver von der Universität İstinye in Istanbul, mit dem NEX24 exklusiv sprach, in Teilen der muslimischen Wählerschaft in Deutschland ein wachsendes Misstrauen gegenüber den staatstragenden Parteien.

Der Wissenschaftler für internationale Beziehungen sagt:

„Bei den Bundestagswahlen war zu erkennen, dass muslimische Wähler neben populistischen Parteien wie der AfD oder dem BSW die Linke bevorzugten. Meiner Meinung nach liegt der Grund dafür im wachsenden Misstrauen gegenüber den Parteien der Mitte. Nichtsdestotrotz sollte nicht vergessen werden, dass eine Kategorisierung der Wähler nach religiösen Überzeugungen irreführend ist.“

Linke und BSW beziehen deutlich Stellung zu Themen, die Muslimen wichtig sind

Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Wahlverhalten muslimischer Wählerinnen und Wähler in Deutschland eine klare Präferenz für linke und linksliberale Parteien zeigt – angetrieben von sozialen Fragen, migrationspolitischen Überlegungen und nicht zuletzt der Haltung zum Nahostkonflikt.

Gleichzeitig lassen sich Verschiebungen beobachten: Während einige von den Grünen zur SPD wechselten, fand auch das BSW und Die Linke mit ihrer Kritik an der deutschen Außenpolitik Zustimmung. Mit einer klaren Haltung zu sozialen Fragen sowie zum Umgang mit Migranten und dem Nahostkonflikt haben sich besonders diese beiden Parteien, die vor einigen Monaten noch unter einem Dach vereint waren, von anderen Parteien abgehoben. Sie sprachen gezielt Wählergruppen an, die sich von der aktuellen politischen Landschaft nicht ausreichend repräsentiert fühlen.

Politische Vielfalt unter Muslimen: Zwischen Sozialstaat, Konservatismus und neuen Kräften

Dennoch bleibt das muslimische Wählerpotenzial in Deutschland eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen politischen Interessen. Während sozialstaatliche Aspekte und Antidiskriminierungspolitik für viele eine entscheidende Rolle spielen, gibt es auch konservative und migrationskritische Strömungen.

Die Unterstützung der AfD durch einen kleinen Teil muslimischer Wähler verdeutlicht zudem, dass sich wirtschaftliche und sicherheitspolitische Sorgen nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in migrantisch-muslimischen Communities widerspiegeln.

Mit einer weiter steigenden Wahlbeteiligung und wachsendem politischem Einfluss bleibt die Frage offen, wie Parteien in Zukunft auf die Erwartungen dieser Wählergruppe reagieren werden. Besonders mit Blick auf die Debatten um Integration, Migration, Sicherheits- und Außenpolitik dürfte sich zeigen, ob und wie die politischen Lager in Deutschland auf diese Entwicklungen eingehen – oder ob sich neue politische Kräfte etablieren.

Fest steht: Das muslimische Wählerpotenzial stellt sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die deutsche Parteienlandschaft und Politik dar.