
Ein Gastbeitrag von Çağıl Çayır
In Balıkesir hielt Mustafa Kemal Atatürk eine Freitagspredigt – auf Türkisch, als Zeichen für einen verständlichen und aufgeklärten Glauben. Eine historische Verteidigung des Islam mit Vernunft, Würde und Wissenschaft.
Am 7. Februar 1923 ereignete sich in der westtürkischen Stadt Balıkesir ein symbolträchtiger Moment der Geschichte: Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Republik Türkei, hielt in der Zağnos-Paşa-Moschee persönlich eine Freitagspredigt.
Diese sogenannte „Balıkesir-Hutbesi“ war mehr als eine Geste – sie war eine programmatische Ansage an ein neues Verhältnis zwischen Religion, Sprache, Staat und Wissen. Bis heute ist Atatürk der einzige Präsident der Türkei, der sich zu diesem Schritt entschloss.
Glaube mit Verstand – nicht gegen ihn
In seiner Predigt machte Atatürk deutlich: Der Islam widerspricht nicht der Vernunft – im Gegenteil, er fordert sie. Der Glaube sei keine Form der Unwissenheit, sondern verlange nach Erkenntnis, Bildung und moralischer Verantwortung.
„Der Islam ist eine Religion, die dem Verstand, der Logik und der Realität entspricht.“
(aus der Balıkesir-Hutbe, 1923)
Atatürk trennte Religion und Wissenschaft nicht, wie es viele westliche Modernisierungsbewegungen taten – vielmehr sah er sie als voneinander abhängig:
Kein Glaube ohne Wissen, kein Wissen ohne Weisheit.
Der Islam als Träger von Wissenschaft und Zivilisation
Anders als viele seiner westlichen Zeitgenossen, die den Islam als rückständig oder „barbarisch“ betrachteten, erkannte Atatürk im Islam eine Quelle für Wissenschaft, Zivilisation und ethische Orientierung.
Er stellte klar:
Der Islam befiehlt Wissen, fordert Aufrichtigkeit und ermutigt zur Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten.
Durch diese Perspektive rettete und schützte Atatürk den Islam nicht nur vor ideologischer Instrumentalisierung, sondern verteidigte ihn auch gegenüber jenen modernen Zivilisationen, die Religion ins Abseits der Geschichte gedrängt hatten.
Wo Europa im Zuge der Moderne das Christentum und Judentum zunehmend säkularisierte, trug Atatürk den Islam aktiv in die Moderne – als spirituelle Stütze auf dem Weg zur Wahrheit, zur Aufrichtigkeit und zum Frieden.
Die Türkisierung des religiösen Raumes
In diesem Geist initiierte Atatürk weitreichende Reformen: Die Freitagspredigten (Hutben) wurden auf Türkisch eingeführt, der Koran übersetzt, der Gebetsruf (Ezan) eine Zeit lang türkisch gesprochen. Es ging ihm nicht darum, den Glauben zu unterdrücken, sondern ihn aus der Unverständlichkeit zu befreien und zu veredeln.
Ein Erbe für die Zukunft
Atatürks Vision war keine Trennung von Religion und Staat im Sinne der Feindschaft – sondern eine Reinigung des Glaubens von Machtmissbrauch und Aberglauben. Seine Freitagspredigt in Balıkesir steht sinnbildlich für einen modernen, würdevollen und gebildeten Islam, der nicht vor der Moderne zurückweicht, sondern mit ihr in einen ehrlichen, menschlichen Dialog tritt.
Atatürks Freitagspredigt in Balıkesir (7. Februar 1923) – Deutsche Übersetzung
„O Volk! Allah ist Einer, und Sein Ruhm ist groß.
Allahs Frieden, Liebe und Güte seien mit euch!
Unser geehrter Prophet – der Gesandte unseres Herrn – wurde von dem erhabenen Schöpfer damit beauftragt, den Menschen die religiösen Wahrheiten zu verkünden und ihnen als Gesandter den rechten Weg zu weisen. Die Grundlage dieser Botschaft ist das, was wir alle kennen: die eindeutigen und klaren Bestimmungen im edlen Koran.
Unsere Religion, die den Menschen geistige Erfüllung schenkt, ist die letzte Religion – sie ist vollkommen. Denn sie entspricht vollständig dem Verstand, der Logik und den Tatsachen.
Wäre dies nicht der Fall – wenn sie also der Vernunft, der Logik und der Realität widerspräche – dann müsste es einen Widerspruch zwischen ihr und den übrigen göttlichen Naturgesetzen geben.
Doch der Urheber aller Naturgesetze ist niemand anderes als Allah selbst.
Meine Freunde!
Der erhabene Prophet besaß in seiner Lebensführung zwei Orte, zwei Häuser: Das eine war sein eigenes Haus – das andere war das Haus Allahs. Die Angelegenheiten des Volkes pflegte er im Hause Allahs zu regeln.
Indem wir heute dem segensreichen Weg des Propheten folgen, befinden wir uns in diesem heiligen Ort, im Angesicht Gottes, um über die Gegenwart und die Zukunft unseres Volkes zu sprechen.
Dass mir diese Ehre zuteilwurde, verdanke ich den gläubigen und heldenhaften Menschen Balıkesirs.
Dafür empfinde ich große Dankbarkeit. Und ich hoffe, dass mir durch diesen Anlass auch großer Lohn bei Allah zuteilwerden möge.
Meine Herren!
Moscheen sind nicht gebaut worden, damit wir darin ohne Blick füreinander niederknien und aufstehen. Moscheen sind Orte, an denen wir nicht nur beten und zuhören, sondern gemeinsam nachdenken, was für Religion und Welt zu tun ist – Orte, an denen wir unsere Meinungen austauschen und unsere Gedanken miteinander teilen.
Wenn es um die Belange des Volkes geht, muss jeder Einzelne seinen Geist aktiv einsetzen. Lasst uns also hier – für unsere Religion, für unser diesseitiges Leben, für unsere Zukunft und vor allem für unsere Souveränität – offenlegen, was wir denken.
Ich möchte hier nicht nur meine eigene Meinung darlegen – ich möchte auch eure Gedanken hören. Nationale Ziele, nationaler Wille entstehen nicht durch die Überlegungen eines Einzelnen, sondern durch die Vereinigung der Wünsche und Ideale aller Menschen des Volkes.
Deshalb bitte ich euch:
Was ihr von mir wissen oder erfahren wollt – fragt frei und offen.“
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlicht.
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