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Gastkommentar
Westdeutscher Transatlantizismus nach dem Zweiten Weltkrieg

Jürgens: "Um die Schlüsselpositionen der heutigen deutschen Regierung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika besser zu verstehen, ist eine Reise in die Geschichte bzw. in die politische Erinnerung sinnvoll"

(Foto: Mkai)
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Ein Gastkommentar von Klaus Jürgens

Um die Schlüsselpositionen der heutigen deutschen Regierung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika besser zu verstehen – sie unterstützt Washington in den meisten Fällen in jeder Hinsicht – und da wieder einmal ein sozialdemokratischer Politiker die Geschicke des Landes lenkt, ist eine Reise in die Geschichte bzw. in die politische Erinnerung sinnvoll.

Beginnen wir in den 1970er Jahren: Die Bundesrepublik war fest in der Hand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Nach Bundeskanzler Willy Brandt war es Helmut Schmidt, der die Führung des Landes übernahm. Zugegeben, es gab einen beträchtlichen Einfluss von und durch die Freien Demokraten (FDP, Freie Demokratische Partei), der ironischerweise aber letztlich zum Niedergang von Schmidts Amtszeit führte – manche sagen, zum Verrat an Schmidt; außerdem, und das ist von hoher Relevanz für diese Meinungsseitenanalyse, hat die SPD, obwohl sie an der Wahlurne leicht gewonnen hat, nie über 50 Prozent erreicht.

Daher war ein Koalitionspartner das Gebot der Stunde. In den 70er Jahren begünstigte die FDP die SPD, und da die Grünen noch nicht auf der politischen Bühne standen, war eine stabile Regierung garantiert. Wie macht man seinen zukünftigen Koalitionspartner politisch glücklich? Indem man ihnen das Amt des Außenministers zuweist, zunächst Walter Scheel, dann Hans-Dietrich Genscher. Genscher wurde zum Synonym für ein aufstrebendes, modernes Westdeutschland.

Man könnte argumentieren, dass wir in dieser Periode der deutschen Geschichte eine klare Aufgabenteilung erkennen – die Außenpolitik sollte dem Außenamt bzw. dem Außenminister überlassen werden und alle anderen oder die meisten anderen innenpolitischen Bereiche dem Bundeskanzler und seinen anderen ‚nicht-außenpolitischen‘ Kabinettsmitgliedern.

Dies wiederum kann zu vielen Konflikten und Missverständnissen führen – und hat es auch getan -, vor allem, wenn einer der Koalitionspartner, in diesem Fall die SPD, in der Frage, wie die internationalen Angelegenheiten und Beziehungen zu regeln sind, tief gespalten ist. Lassen Sie uns also kurz darauf zurückblicken, warum Westdeutschland sich den Vereinigten Staaten überhaupt so stark angenähert hat.

Hier müssen wir die ‚Atlantik-Brücke‘ untersuchen. Die Atlantik-Brücke wurde 1952 gegründet. In den Worten der Organisation, die Bundesrepublik Deutschland war jung und es fehlte an zivilgesellschaftlichen Kräften, um die Beziehungen zum Westen nachhaltig und langfristig zu stärken. Sie wollten den Grundstein für ein gutes transatlantisches Verhältnis legen. Zur gleichen Zeit wie die Atlantik-Brücke wurde in den USA der American Council on Germany (ACG) als amerikanische Schwesterorganisation gegründet, die sich für die Verständigung und den Austausch mit Deutschland einsetzte.

Seit ihrer Gründung hat sich die Atlantik-Brücke auf die Förderung persönlicher Begegnungen zwischen deutschen und amerikanischen Führungskräften konzentriert. Zunächst bemühte sich die Atlantik-Brücke besonders darum, die amerikanische Öffentlichkeit über Deutschland zu informieren und so das Interesse an Land und Leuten zu wecken.

Die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Streitkräften in Deutschland war der Atlantik-Brücke stets ein wichtiges Anliegen. Von 1957 bis 1970 gab die Organisation ein englischsprachiges Informationsblatt für die in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten heraus. Darüber hinaus wurden politische Bildungsseminare für amerikanische Offiziere angeboten.

Neugierig? Wie würde sich eine so starke transatlantische Verbindung auf die sozialistischen und sozialdemokratischen Stimmen im Nachkriegsdeutschland auswirken? Alles perfekt oder gab es Bedenken, sich zu sehr auf den Westen zu stützen?

Wir werden versuchen, besser zu verstehen, warum die SPD als führender Koalitionspartner in den 1970er Jahren über diese engen Beziehungen eher gespalten war.

Die SPD wollte sich als eine Volkspartei darstellen. Meik Woyke schrieb am 24. Oktober 2020 einen fantastischen Aufsatz über die transatlantische Partnerschaft, ‚Helmut Schmidt und die Vereinigten Staaten von Amerika‘ Zitat: ‚schon als junger Bundestagsabgeordneter in den 1950er Jahren besuchte Helmut Schmidt mehrfach die Vereinigten Staaten, auch um seine Expertise und sein Profil in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu schärfen. 1957 traf Schmidt zum ersten Mal Henry Kissinger, der an der Ostküste der USA in Harvard lehrte (…) Schmidt war von seinem Gesprächspartner sehr angetan.

Die beiden wurden Freunde und blieben bis zum Schluss politische Verbündete. Kissingers Amtszeiten als Nationaler Sicherheitsberater (1969-1973) und als Außenminister (1973-1977) unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford fielen teilweise mit Schmidts Tätigkeit als Bundesminister und den folgenden Jahren als Bundeskanzler zusammen. Ihr Dialog war in dieser Zeit besonders intensiv.‘

Seit Oktober 1969 an der Spitze des Verteidigungsministeriums, verknüpfte Schmidt sein erstes Bundesministeramt eng mit seinem sicherheitspolitischen Konzept einer Strategie des Gleichgewichts zwischen den USA und der Sowjetunion, das er mehr als ein Jahrzehnt zuvor formuliert hatte. Damals wies er der Europäischen Gemeinschaft noch keine verteidigungspolitische Rolle zu, betonte aber die wachsende Verantwortung der europäischen NATO-Staaten.

Schmidt stand der NATO-Strategie der nuklearen Vergeltung gegen die UdSSR äußerst kritisch gegenüber, da sie im Ernstfall beide Teile Deutschlands in ein nukleares Schlachtfeld verwandelt hätte. Gemeinsam mit seinem Freund, dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, karikierte Schmidt den US-Präsidenten deshalb als unzuverlässigen ‚Erdnussfarmer‘, dem es an sicherheitspolitischer Erfahrung für sein mächtiges Amt fehle.

Vor diesem Hintergrund ist es auch bemerkenswert, dass es Helmut Schmidt als Vertreter des im Zweiten Weltkrieg besiegten Deutschlands gelang, den NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 herbeizuführen.

Angesichts der Blockkonfrontation im Kalten Krieg war Schmidt besorgt über die fehlende Parität bei den nuklearen Mittelstreckenwaffen. Wenn die Sowjetunion nicht bereit sei, über die Reduzierung ihrer SS-20-Raketen zu verhandeln, müssten die USA nach dem NATO-Doppelbeschluss ausreichend Pershing-II-Raketen in Westeuropa, nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland, stationieren. Diese Haltung brachte Schmidt viel Kritik aus der eigenen Partei ein. Neben der SPD sprach sich auch die wachsende Friedensbewegung dagegen aus.

Und nun zurück ins Jahr 2024

Viele internationale Beobachter stellen mit Erstaunen fest, dass der heutige sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz unbeirrbar auf der Seite Washingtons steht, und die unvorstellbare menschliche Katastrophe, die sich in Palästina abspielt, ist das schockierende und traurige Beispiel dafür. Es gibt noch viele andere Themen, die auf dem Spiel stehen, allen voran der Krieg in der Ukraine. Die Beteiligung an der NATO-Osterweiterung steht ebenso ganz klar an dritter Stelle.

Also: Hat die SPD ihre innere Zerrissenheit überwunden und den Transatlantizismus 2.0 entwickelt? Ist Moskau für Berlin nicht mehr existent? Oder werden kritische Stimmen zum eingeschlagenen Kurs der SPD einfach nicht mehr geduldet? Was ist mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der vor einiger Zeit seine Bedenken äußerte, indem er sagte, dass die Angst, die Russen kämen absurd sei wenn andere von einem bevorstehendem Angriff Russlands auf die NATO sprachen?

In diesem Artikel wird erklärt, wie der Transatlantizismus in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Dazwischen gab es vielversprechende Jahre, in denen Bonn und später Berlin proaktive paneuropäische Gespräche mit Moskau führten und Investitionen in beide Richtungen florierten, die Menschen beider Länder sich kennenlernten. In jüngster Zeit und aufgrund der politischen Umstände scheint es aber als ob Deutschland es vorzieht, wieder nur nach Westen zu schauen, anstatt nach Westen und Osten.

In einer Zeit, in der der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Recht argumentiert, dass die Welt größer ist als fünf und damit impliziert, dass keine einzelne Supermacht, oder besser gesagt fünf, der Welt diktieren sollten, was sie zu tun und zu lassen hat, wäre Deutschland vielleicht gut beraten, Ankara sozusagen über die politische Schulter zu schauen und eine neue 360-Grad-Außenpolitik zu entwickeln, genau wie die Republik Türkiye. Nicht antiamerikanisch sein, sondern dafür sorgen, dass Amerika seine Verbündeten auch auf Augenhöhe behandelt.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Klaus Jurgens MSc. (LSE)
Media Relations Expert and Communications Strategist
Economyfirst Limited London
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