Ein Gastkommentar von Kemal Bölge
Hinter der Besetzung Kirkuks durch kurdische Peschmerga-Milizen steckt ein Projekt, mit der die Abspaltung der nordirakischen Kurden vom irakischen Gesamtstaat besiegelt werden soll. Mit dem 1926 geschlossenen Vertrag von Ankara besitzt die Türkei ein Mitspracherecht bei der Zukunft des Irak.
Es war der 16. März 1988, als Kampfflugzeuge von Saddam Husseins irakischer Luftwaffe Bomben über der nordirakischen Stadt Halabja abwarfen, das Giftgas enthielt. Bei den Angriffen starben schätzungsweise 5.000 Menschen, 7.000 werden verletzt. Tausende Schutz suchende Menschen flohen vor dem tödlichen Giftgas in die Türkei und in den Iran.
In diesem Kontext fanden 1988 etwa 60.000 Schutzsuchende Kurden Zuflucht in der Türkei. Das Baas-Regime verdächtigte die mehrheitlich kurdische Bevölkerung von Halabja der Kollaboration mit dem damaligen Kriegsgegner Iran. Später stellte sich heraus, dass das Giftgas von deutschen und europäischen Unternehmen an den Irak geliefert wurde. Der irakischen Besetzung des ölreichen Kuwait folgte der erste Golfkrieg und der Niederlage der irakischen Armee gegen die westlichen Alliierten.
Die Armee von Saddam Hussein erlitt im ersten Golfkrieg zwar eine verheerende Niederlage, aber vor einer endgültigen Zerschlagung der irakischen Armee wollte man in den westlichen Hauptstädten dennoch nichts wissen, weil Bagdad gegen einen erstarkten Iran in der Region gebraucht wurde.
Das Versprechen der USA nach Demokratie und Freiheit wurde nie eingelöst
Das änderte sich 2003, als die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand des irakischen Besitzes von Massenvernichtungswaffen den Irak erneut angriffen. Nach dem zweiten Irak-Krieg und dem Sturz Saddam Husseins 2003 blieb das Land bis 2011 unter US-Besetzung. Zum „Schutz der kurdischen Zivilbevölkerung“ und unter Berufung auf eine UN-Resolution errichteten die USA, Großbritannien und Frankreich nördlich des 36. Breitengrades im Nordirak eine Flugverbotszone.
Auch wenn die genannten Staaten es öffentlich nicht eingestanden haben, bestand das Ziel darin, den Irak als Ganzes aufzuteilen. Unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten wurde eine neue Verfassung für den Irak ausgearbeitet. Nach Artikel 1 der irakischen Verfassung handelt es sich beim Irak um einen föderalen Staat, und nach Artikel 4 sind die Amtssprachen Arabisch und Kurdisch.
Die amerikanischen Besatzer kamen mit dem Versprechen Demokratie und Freiheit in das Land zu bringen, aber in der Verfassung wurde die irakische Bevölkerung in ethnische und religiöse Gruppen aufgeteilt. Den Kurden im Nordirak wurde mit westlicher Unterstützung eine Selbstverwaltung eingeräumt und diese in der irakischen Verfassung verankert.
Durch den ersten Golfkrieg begann ein Zerfall staatlicher Strukturen im Nordirak, mit dem ein Sicherheits-Vakuum entstand, das Terrororganisationen wie der PKK neue Möglichkeiten zur Rekrutierung von Anhängern, der Beschaffung von Waffen und Munition sowie Anschlägen in der Türkei bot. Unter anderem durch die fehlende staatliche Autorität und den Folgen des ersten Golfkrieges flüchteten Zehntausende Menschen in die Türkei.
Trotz der von westlichen Staaten gemachten Zusagen für eine finanzielle Unterstützung der in die Türkei geflüchteten Flüchtlinge, blieb es bei den Versprechen an die türkische Regierung, die die Kosten selbst tragen musste. Ganz einmal abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen des Embargos gegen den Irak, die die türkische Wirtschaft nach einer Einschätzung 30 Milliarden US-Dollar gekostet habe.
Strategische Bedeutung von Kirkuk und das Erdöl
Die Stadt Kirkuk geriet wegen der dortigen reichen Erdölvorkommen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Visier Großbritanniens und war von strategischer Bedeutung. Etwa 40 Prozent der irakischen Erdölvorkommen sollen auf die Region Kirkuk entfallen. Mit dem irakischen Baas-Regime und unter dem Einfluss des arabischen Nationalismus wurden die Namen einstmals turkmenischer Städte wie Mossul, Kirkuk, Erbil, Süleymaniye oder Telafer geändert und erhielten arabisierte Namen. Nach der US-Eroberung des Irak 2003 drangen unter amerikanischer Duldung Peschmerga-Milizen in Kirkuk ein. Neben der Einnahme von Regierungsgebäuden des gestürzten Saddam-Regimes besetzten die kurdischen Milizen Gerichtsgebäude, Einwohnermelde- und Grundbuchämter.
Das Ziel bestand darin, alle amtlichen Dokumente über die arabische und turkmenische Bevölkerung zu beseitigen, was ihnen auch teilweise gelang. In Kirkuk sollte nichts mehr an eine multiethnische Stadt erinnern, in der Araber, Turkmenen, Kurden und andere ethnischen Gruppen friedlich miteinander lebten. Mit dieser Aktion sollte der Weg freigemacht werden, um territoriale Ansprüche auf Stadt und Region geltend machen zu können. Die Turkmenen sind zu Opfern einer Arabisierungs- und Kurdisierungspolitik in der Region geworden.
Der Status von Kirkuk ist umstritten, denn sowohl die irakischen Kurden als auch die dort seit Jahrhunderten lebenden Turkmenen erheben Anspruch auf die Stadt. Durch die Angriffe der Terrororganisation Daesh/IS auf Siedlungsgebiete der Turkmenen im Nordirak war die Volksgruppe Massakern, Vergewaltigungen und Zwangsvertreibungen ausgesetzt. Weder die irakische Regierung noch die nordirakischen Kurden eilten den Turkmenen zu Hilfe. Die internationale Öffentlichkeit erfuhr über Verbrechen gegen die Jeziden, aber über die Massaker und Vertreibungen gegen die Turkmenen hüllten sich die meisten westlichen Medien in Schweigen.
Demografische Strukturen von Kirkuk mit Gewalt verändert
Der rechtliche Status von Kirkuk sollte 2007 in einem Volksentscheid geklärt werden, was allerdings nie erfolgte. Nach den Angriffen der Terrororganisation Daesh auf Kirkuk und der Flucht der irakischen Armee aus der Stadt fiel diese in die Hände der kurdischen Peschmerga. Bis zum umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum 2017 blieb Kirkuk unter der Kontrolle der Kurden. Seit dieser Zeit haben sich die demografischen Strukturen in Kirkuk dramatisch verschoben.
Turkmenen wurden mit unterschiedlichen Mitteln gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und Kurden, die in anderen Regionen lebten, siedelte man systematisch in Kirkuk an. In der Stadt lebt auch eine arabische Bevölkerung. Insbesondere in der Nacht häuften sich in Kirkuk die Angriffe durch die Terrormiliz Daesh und diese Attacken wiederum dienten der kurdischen Verwaltung als Vorwand, um Kirkuk zu besetzen.
Nordirakische Regionalregierung will mit der Besetzung Kirkuks Fakten schaffen
Auf Anweisung der Zentralregierung in Bagdad rückte 2017 die irakische Armee in Kirkuk und in anderen umstrittenen Regionen ein, um die Ordnung wiederherzustellen. Durch eine Vereinbarung der irakischen Regierung mit der Autonomieverwaltung in Erbil sollten ab dem 25. November 2021 wieder die Peschmerga über Kirkuk bestimmen.
Mit der Kontrolle über Kirkuk will die nordirakische Regionalregierung Fakten schaffen und sich damit die ölreiche Region einverleiben. Wenn Kirkuk und die Region wieder in die Hände der Peschmerga gelangen sollte, nähme der Druck seitens kurdischer Milizen auf die Volksgruppe der Turkmenen und Araber in der Stadt und in dem Gebiet zu, um diese mit allen Mitteln zu vertreiben. Die Turkmenen haben keine Schutzmacht, die sich für die Interessen der etwa drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln einsetzt.
Ein Zerfall des Irak verstieße gegen die Verträge von Ankara, die 1926 und 1946 zwischen der Türkei, Großbritannien und dem Irak bzw. zwischen der Türkei und dem Irak geschlossen wurde. Nach dieser Übereinkunft respektieren beide Seiten die territoriale Integrität des Nachbarstaates. Die türkische Regierung hatte in einer Mitteilung des nationalen Sicherheitsrates (MGK) von 2017 auf den erwähnten Vertrag von Ankara Bezug genommen und vor einer Veränderung der Grenzen des Irak gewarnt.
Abspaltung umstrittener Gebiete in irakischer Verfassung niedergeschrieben
Es gibt eine Verbindung zwischen dem drohenden Einfall kurdischer Peschmerga nach Kirkuk und in die Region sowie den systematischen Vertreibungen der Turkmenen aus ihren historischen Siedlungsgebieten und der irakischen Verfassung. Denn Artikel 140 der jetzigen Verfassung besagt, dass über die Zukunft „umstrittener Gebiete“ in drei Phasen entschieden werden soll.
Bei den drei Etappen geht es um „Normalisierung, Volkszählung und Plebiszit.“ Die Volkszählung wurde in den Augen der Planer seit 2007 deshalb noch nicht umgesetzt, weil die Rahmenbedingungen für einen Zensus, also eine kurdische Mehrheit zu erzielen, noch nicht erfüllt war. Hinter der Besetzung Kirkuks durch getreue Barzani-Milizen steckt ein lang gehegter Plan zur Einverleibung der ölreichen Region und der späteren Abspaltung der kurdischen Verwaltung Nordiraks vom irakischen Gesamtstaat.
Genau wie vor 101 Jahren: am 10. August 1920 versuchten die Sieger des Ersten Weltkriegs das Schicksal des Osmanischen Reiches mit dem Vertrag von Sèvres zu besiegeln und auf dessen Gebiet unter anderem einen „kurdischen Staat“ zu errichten. General Mustafa Kemal Pascha und seine Befreiungsbewegung akzeptierten den Vertrag nicht und organisierten den Widerstand gegen die Besatzer. Nach dem erfolgreichen Befreiungskrieg gegen die Alliierten wurde am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei ausgerufen, bereits im Juli 1923 überwand die Türkei mit dem Friedensvertrag von Lausanne die erniedrigenden Bestimmungen des Friedens von Sèvres.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar
Auch interessant
– Terrorismus –
Kurden-Präsident Barzani: Die Türkei hat kein Problem mit Kurden
Der Präsident der „Autonomen Irakischen Region Kurdistan“ (KRG), Necirvan Barzani, hat sein Volk dazu aufgerufen, sich von der Terrororganisation PKK zu distanzieren.
Kurden-Präsident Barzani: Die Türkei hat kein Problem mit Kurden