Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Schweden und Finnland wollen in ein Verteidigungsbündnis; „Rojava“ will politische Unterstützung und Anerkennung von beiden Ländern! Dachten die „Politiker“ all dieser Parteien, die NATO sei ein Club friedliebender Demokratien, wo es Sicherheit und Land zum Nulltarif gibt?
Die schwedische Außenministerin Ann Linde rühmte sich noch vor der Einreichung des NATO-Beitrittsantrags, wie sich die Länder im NATO-Bündnispakt geradezu einen Wettbewerb lieferten, wer denn zuerst die Beitrittsanträge Schwedens und Finnlands ratifiziert. Die Vorfreude hielt nicht lange an!
Vielleicht ahnte man ja schon, dass das eine oder andere NATO-Land kleine Hürden aufstellen würde. Doch die dunklen Wolken wurden schnell vom atlantischen Wind davon getragen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ließ Anfang März keine Zweifel aufkommen und war sich ganz sicher, dass die Skandinavier mit Freudentränen in das Verteidigungsbündnis aufgenommen werden.
Schweden und Finnland, die sich bisher als astreine sozialistische Demokratien ausgaben, wurden jedoch sehr früh und sehr hart des besseren belehrt. Was in Schweden oder Finnland gut war, wurde zu einem großen Problem: Dass sich Verteidigungsminister Peter Hultqvist mit „kurdischen Freiheitskämpfern“ traf; dass Außenministerin Ann Linde die „Vertreter Rojavas“ nach Stockholm einlud; dass Schweden Flüchtlingen, die vor „staatlicher Repression“ geflohen sind, Asyl gewährt hat; dass Schweden die „kurdische Organisation“ in Nordsyrien unterstützt, die zuvor bis zur „Selbstaufopferung“ sich dem IS entledigten; und dass Schweden sich bisher geweigert hat, die Ausfuhrgenehmigung von Waffen an die Türkei zu erteilen.
Dass sich führende Politiker aus Demokratien und Bündnissen auf derselben Seite sehen, im identitätspolitischen Wahn gegenseitig zum reibungslosen Aufnahmeritus hochschaukeln, muss für sie angesichts einer vordefinierten „autokratischen“, „diktatorischen“ Führung aus Ankara jetzt wohl peinlich sein. Erst recht, wenn dieses „Unterdrückungsregime“ Vorrang vor einer kurdischstämmigen schwedischen Linkenpolitikerin oder gar „Rojava“ bekommen kann; wird.
Für diese Musterländle Schweden und Finnland muss die gegenwärtige NATO angesichts ihrer Geschichte und der Zustände eigentlich ein Graus sein. Die Tatsache, dass die schwedische Führung die NATO als wohligen und friedliebenden Demokratienhaufen betrachteten und diese vor dem Antrag an ihr Volk auch so weitergaben, ist nun ein echtes Problem für die Regierungen selbst.
Nicht, dass die Schweden und Finnen das nicht erahnen konnten. Im Jahr 2009 forderte die Türkei die dänische Regierung auf, die PKK-nahe kurdischsprachige ROJ TV die Sendelizenz zu entziehen. Im Gegenzug wollte die Türkei die Ernennung Anders Fogh Rasmussen als Generalsekretär der NATO billigen. Ein Jahr später wurde der Forderung entsprochen, der TV-Sender strafrechtlich verfolgt und 2013 die Sendelizenz entzogen. Rasmussen wurde Generalsekretär.
2019 forderte die Türkei, dass die NATO die „kurdischen Freiheitskämpfer“ als Terroristen einstuft. Im Gegenzug erklärte sich Ankara bereit, die Stärkung des Baltikums und Polens mitzutragen und beim NATO-Manöver „Saber Strike“ dabei zu sein. Die NATO zögerte, beschwichtigte, drehte hier und da an ihren Stellschrauben und kam der Türkei entgegen.
Traumblasen in Schweden, Finnland und „Rojava“
An welchen Erkenntnissen fehlte es der schwedischen oder finnischen Regierung angesichts dieser Vergangenheit der NATO, vor allem in Zusammenhang mit der Türkei, oder die der parlamentarischen Kommissionen, um zielführende sicherheitspolitische Analysen zu treffen? Alle Beteiligten konzentrierten sich stattdessen darauf, ihre sozial-demokratischen Werte in die Welt zu tragen, es aufzuoktroyieren oder dieses Wertebündnis zu verstärken. Dabei ersetzten sie die Realität mit einem Traumbild.
Nun hat Ankara diese Traumblase jäh zerstört. Es ist nicht nur ein Konflikt zwischen Putin und der freien, offenen und demokratischen Ordnung, wie sich die Beteiligten bislang einredeten. Es gibt auch ein Konflikt zwischen der PKK und der Türkei, die die Realität Ankaras ist.
Wenn man die Traumblase noch weiterspinnt, müssten nach diesen Wertemaßstäben mindestens Ungarn, die Türkei oder die USA rausfliegen; eigentlich alle NATO-Mitglieder. Die USA haben nach diesen Wertemaßstäben zusammen mit weiteren europäischen Ländern und Bündnispartnern mehrere Angriffskriege geführt und sowohl das Völkerrecht wie auch die Rechtsstaatlichkeit ausgehöhlt.
Aber aus welchen Gründen auch immer, hegten parlamentarische Kommissionen und Ausschüsse Schwedens und Finnlands während ihrer Zusammenkünfte nicht den leisesten Verdacht, dass die Mitglieder der NATO etwas Unanständiges, ja Verwerfliches getan hätten. Folglich taucht in den Arbeitspapieren auch die Türkei nicht auf.
Stattdessen wurde in dicken Aktenbergen stets betont, dass „die russische Führung gezeigt hat, dass sie bereit ist, auch in weiter von Russland entfernten Ländern wie Syrien militärische Gewalt einzusetzen, um ihre politischen Ziele zu erreichen“. Ergo könnte Putin sehr wohl auch über Schweden oder Finnland herfallen, was ja den Regierungen ernsthafte Sorgenfalten bereitet.
Merkwürdigerweise erwähnt man in all dem nicht, dass die USA, Frankreich oder Großbritannien Truppen in Syrien unterhalten; türkische Truppen inklusive. Es ist dieser Tunnelblick der Skandinavier, der diese Traumblase erschuf. Eine Traumblase, die dazu geführt hat, dass die schwedische Regierung jetzt angeblich von den Forderungen der Türkei überrollt wird. Schweden und Finnland haben sich so sehr darauf konzentriert, ihre Länder so schnell wie möglich in die NATO zu drängen, dass sie die Realität mit einem Traumbild eines Militärbündnisses ersetzten.
Ob die schwedische oder finnische Regierung die Realität absichtlich verschwiegen, sei mal dahingestellt. Es ist aber seltsam still geworden, still um die Initiativen für eine „kurdische Selbstverwaltung“ namens Rojava. Still um die unzähligen Treffen mit Terroristen zuvor.
Natürlich gibt es jetzt eine einmalige Gelegenheit für NATO-Mitglieder, Schweden oder die US-Regierung – die den schwedischen Beitritt unterstützt – zu erpressen. Überraschend an den türkischen Forderungen ist, dass sie diesmal öffentlichkeitswirksam und konkret vorgetragen werden. Dezentere Wünsche wären nach Bewilligung des Antrags zu einem geeigneten Zeitpunkt heimlich leichter zu erfüllen gewesen. Jetzt sind stattdessen alle Beteiligten in ihrer eigenen innenpolitischen Meinung gefangen. Das macht es für Ankara interessanter und weitaus effektiver, ihre Interessen durchzusetzen. Wer würde denn das nicht beim Schopfe packen?
Es ist zu befürchten, dass die Schweden und Finnen derzeit nur einen Vorgeschmack davon bekommen haben, wie es innerhalb eines Bündnisses abgeht; welche Werte man über Bord schmeißen muss; welche Kompromisse man eingeht und welche Forderungen man notfalls wie durchsetzt.
Fest steht, dass man in Schweden in einer sicherheitspolitischen Expertise von 2016 ganz vorsichtig festgestellt hat, dass eine NATO-Mitgliedschaft „Schwedens politischen und diplomatischen Handlungsspielraum einschränken würde. Die Zugehörigkeit zu einem Bündnis wäre ein neuer Bruch in der schwedischen Außenpolitik und eine weitere Dimension, die es bei der weiteren Gestaltung zu berücksichtigen gilt“.
Dieser Bruch zeichnet sich bereits in den Verhandlungen mit der Türkei ab. An diesem Wochenende deutete bereits der schwedische Leiter der Wirtschafts- und Ausfuhrkontrolle an, dass die Diskussion über die NATO-Mitgliedschaft dazu führen könnte, dass die Ausfuhrgenehmigungen für Exporte von Waffen in die Türkei keiner Beschränkung mehr unterliegen.
Es muss davon ausgegangen werden, dass die schwedische Regierung auch andere Anpassungen vornehmen wird; muss. Dinge wie die Teilnahme an militärischen Operationen im Ausland, Handelsabkommen mit Bündnispartnern, Entwicklungshilfe, den Zugang zu Technologien und natürlich nachrichtendienstliche Informationen, die auch Partnern wie der Türkei zugutekommen. Aber im schlimmsten Fall auch über die Art von Leistungen, die nicht ans Tageslicht gelangen dürfen.
Wollen die Schweden und Finnen nun Sicherheit zum Nulltarif? Dann müssen sie auch ihre Wertemaßstäbe neu kalibrieren und z.B. ertragen, dass die Bündnispartner, angeführt von den USA, mit der Aktivierung von Artikel 5 des NATO-Vertrags die schwedische Regierung um Beistand fordern; wie Oktober 2001 nach 9/11, als man freie Hand haben wollte, Lufträume und Flugplätze zur Bekämpfung der Al-Qaida, u.a. auch in der Türkei, zu nutzen.
Hunderte Verdächtige „Terroristen“ wurden daraufhin heimlich teils über europäischen Boden verfrachtet und landeten in Guantánamo. Auch über Ramstein wurde manch ein „Verdächtiger“ nach Guantánamo ausgeflogen, galt dieser Luftwaffenstützpunkt als Knotenpunkt für diversen heiklen Frachtgut. Manch ein anderes Land, das mit dem Folterverbot weniger sorgsam umging, ging sogar mit der Leistung noch weiter. Zumindest in Polen und Rumänien baute die CIA sogenannte „Black Sites“, wo Verdächtige heimlich eingesperrt und gefoltert werden konnten. Viel, viel später erklärte Rumäniens damaliger Präsident Ion Iliescu, warum das akzeptiert wurde:
„Es war eine Geste des guten Willens in Zusammenhang mit unserem Beitritt zur NATO. […] Wir haben es nicht verstanden, was die USA an diesen Ort vorhatten oder taten. Als Präsident kam mir das wie eine Kleinigkeit vor. Wir waren Verbündete, wir haben gemeinsam in Afghanistan und im Nahen Osten gekämpft, und als ich von unserem Verbündeten eine Anfrage für einen bestimmten Ort in Rumänien erhielt, ging ich nicht ins Detail.“
Wenn die schwedische oder finnische Regierung ihre Traumblase beibehalten und einen Präzedenzfall vermeiden will, bei dem sie künftig von der Türkei, den USA oder anderen NATO-Bündnispartnern der Realität vorgestellt werden, wäre es ein guter Anfang, jetzt Abstand vom NATO-Beitritt zu nehmen. Oder aber, man nimmt die Gefahr, die von Putin ausgeht, so ernst, dass man sich vom Traumbild „Rojava“ verabschiedet, die Terroristen verfolgt oder an die Türkei ausliefert. Die Entscheidung ist eigentlich ganz einfach!
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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