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Kommentar
Die neue geopolitische Rolle der Türkei – Die Welt wird neu aufgeteilt

"Diese Wende Richtung Westen ist an und für sich nicht zu kritisieren. Die Sowjetunion forderte militärische Basen am Bosporus und in der Türkei. Somit hätte sich Ankara mit der Revision des Vertrages von Montreux aus eigenen Stücken in die Abhängigkeit Moskaus begeben und wäre ein weiterer Satellitenstaat der Sowjetunion geworden. Eine Parteinahme für die freie Welt und für den westlichen Block schien sicherheitspolitisch erträglicher und vorteilhafter."

(Foto: nex24)
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Ein Gastbeitrag von Hakan Işık

Auf den ersten Blick kommt der aufmerksame Nachrichtenleser nicht um die inflationär vorkommenden Meldungen über die türkischen Drohnen hin. Wenn gar die renommierten Nachrichtenhäuser und die politikwissenschaftliche Presse intensive Analysen über die Drohnenindustrie verfassen, wird zwar die gestiegene quantitative geopolitische Bedeutung wahrgenommen. Jedoch wird damit nicht der Wandel der geopolitischen Rolle der Türkei sichtbar und was diese neue Rolle in der Geopolitik ausmacht.

Die Rolle des geopolitischen Erfüllungsgehilfen für fremde Sicherheitsinteressen

Um diesen Wandel der Geopolitik fassbar zu machen, gilt es zuvor die alte geopolitische Rolle ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie ist leider auch langwierig sowie sehr schwer in einem euphorischen Duktus wiederzugeben. Es gibt auch keinen Anlass diese schwere Zeit, mit wohlfeilen semantischen Konstruktionen zu beschönigen. Durch die bleierne und stumpfe Zeit hilft lediglich das mühsame Durcharbeiten.

Alsbald nach dem 2. Weltkrieg wurde aus der kemalistischen gesellschaftlichen Westorientierung eine transatlantisch-militärische Westanbindung. Notwendig wurde aus der Sicht der damaligen Politiker diese Westanbindung um der stalinistischen Bedrohung der Republik Türkei entgegenzuwirken. Das stalinistische Bedrohungsszenario war real. Die Berliner Blockade ab 1948 zeigte die Denke des sowjetischen Diktators und stetig herrschte die Furcht der Expansion seitens des sowjetischen Staates. Osteuropa war bereits ein Satelittensystem Moskaus und Stalins. Wenn gar Moskau den Zugang zu den warmen Gewässern planen würde, wäre dieser expansive Schritt über den Bosporus und somit über die Türkei der Fall. Bestätigend sind hinsichtlich dieses Expansiondranges die zwei Forderungen der damaligen Sowjetunion über die Revision des Abkommens von Montreux, womit diese Forderungen zum geopolitischen Schicksal der Türkei wurden.

Dieser expansive Sturm und Drang Stalins markiert den Wendepunkt und Scheideweg in der politischen Ausrichtung der Türkei. Dieses Begriffspaar ist notwendig und unumgänglich, eine Wende erfolgte vollends mit dem Eintritt in die NATO. Damit geht die Aufgabe eines eigenständigen Weges einher und folgt Atatürk einem westlichen gesellschaftlichen Modell als Leitbild, so ist eine Westanbindung Ismet Inönüs vollkommen different zum Atatürkschen Muster des westlichen Leitbildes. Dieses westliche Leitbild bis 1938/45 war eine gesellschaftliche Orientierung. Industriell, wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und militärisch hingegen prägten eigene Konzepte die Türkei.

Die gesellschaftspolitische Adaption westlicher Ideen hätten jederzeit revidiert werden können, wenn die Fundamente der türkischen Gesellschaft hierdurch schädlich beeinträchtig worden wären. Wie sich jedoch die politischen Paradigmen der jungen Republik Türkei veränderten, wird mit dem Beginn und den Ereignissen des Kalten Krieges deutlich und die Folgen des Kalten Krieges waren irreparabel  – bis 1989. Eine Möglichkeit der Revision bis 1989 war hierdurch nicht mehr möglich. Ab 1946 beginnt die erste Etappe der Wende, sichtbar wird diese Wende mit der Einführung des Mehrparteiensystems durch Ismet Inönü. Alsbald sind die Etappen der Wende der politische Kursänderung zum westlichen Block noch ausgeprägter. 1947 vertieft sich die Bindung an die freie Welt mit dem bilateralen Abkommen zwischen den USA und der Türkei über Rüstungshilfen und Wirtschaftshilfen. Die Teilnahme am Koreakrieg 1950 ebnet am 18. Februar 1952 letztendlich die Aufnahme in die NATO.

Satellitenstaat der Sowjetunion

Diese Wende Richtung Westen ist an und für sich nicht zu kritisieren. Die Sowjetunion forderte militärische Basen am Bosporus und in der Türkei. Somit hätte sich Ankara mit der Revision des Vertrages von Montreux aus eigenen Stücken in die Abhängigkeit Moskaus begeben und wäre ein weiterer Satellitenstaat der Sowjetunion geworden. Eine Parteinahme für die freie Welt und für den westlichen Block schien sicherheitspolitisch erträglicher und vorteilhafter. Zumal historisch aus dem russischen Raum mehrmals der Drang Richtung Bosporus stattfand. Die unzähligen Kriege des Osmanischen Reiches mit dem Zarenreich zeigen aber auch etwas anderes, so werden die Sicherheitsinteressen des Westens am Bosporus selber berührt und gefährdet, eilt der Westen. Der Bosporus ist die Rote Linie für den Westen. Falls aus dem russischen Raum die Besetzung der Meerenge in Istanbul droht.

Genau jenen geopolitischen Punkt respektive Joker scheint die türkische Politik nach 1945 ausgeblendet zu haben. Eine Anbiederung und das bedingungslose Anbieten an den Westen in diesem Rahmen führte zum Scheideweg. Bündnistechnisch sich dem westlichen Block hin zu orientieren, impliziert nicht die Aufgabe der eigenständigen Industrie, Verteidigungsindustrie, Rüstungsindustrie, Wirtschaft und Sicherheitspolitik. In welchem engen Handlungsrahmen sich die CHP nach 1945 bewegte, wird dadurch deutlich, wie die aggressive Politik der Sowjetunion verneint wird. Es wird immer wieder vehement der Verlust der Eigenständigkeit befürchtet. Anders agiert jedoch die CHP in der Interessenvertretung Richtung Washington. Die Schließung vitaler Schlüsselbetriebe in der Luftfahrt und Militärindustrie werden für die Hilfe aus dem Marshallplan geopfert.

Die Etappen der Wende nach 1945 entlarven Ismet Inönü in mangelnder Fähigkeiten geopolitisch und interessenpolitisch progressiv zu denken. Keinerlei gewichtige Analyse hätte solch ein geopolitisches Schachmatt gerechtfertigt. Die nüchterne, rationelle und logische Sicht in das europäische Terrain auf dem geopolitischen Schachbrett offenbarte Vorteile und Fakten für eine selbstbewusste souveräne Bündnispolitik. Die Gefahr einer Annexion der Istanbuler Meerenge ist und war für den Westen eine Rote Linie. Allein aus Eigeninteresse des Westens bedingt sich eine militärische Parteinahme für die Türkei. Dieser Aspekt lässt sich nicht in der Politik der CHP und von Ismet Inönü auffinden. Dieser Aspekt ist scheinbar geradezu unbedeutend in den Beziehungen zwischen Washington und Ankara. Überlegungen wie stark oder geschwächt die Sowjetunion ist, schien auch nicht das zentrale Anliegen einer geopolitischen Expertise zu sein.

Einen Angriff auf die Türkei seitens der Sowjetunion nach den immensen Anstrengungen des Zweiten Weltkrieg zu erwarten, hieße auch die Fortführung des Krieges an allen Fronten zwischen den USA und der Sowjetunion. War eher das Interesse Moskaus nicht die Zementierung der Macht in Südosteuropa und Osteuropa, als ein weiteres Abenteuer zu wagen? Trotz dieser gewichtigen Aspekte um in diplomatischen Verhandlungen Augenhöhe zu wahren und in den Verhandlungen auf jenen sublimen Punkt hinzuweisen, dass die Reklamation des Bosporus seitens Stalins nicht unweigerlich in einem kriegerischen Beutezug münden wird, brachten sich Ismet Inönü und die CHP in eine äußerst delikate Situation. Sie verloren in der Entwicklung der türkischen Interessenpolitik die Oberhand sowie die schnelle Entwicklung notwendiger politischer Züge. Ähnlich dem Schachspiel ist der Tempoverlust nunmehr bestimmend für die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei. Washington registrierte, dass die Vertreter Ankaras ihre Interessenpolitik nicht mehr effektiv entwickeln konnten und sich selbst gefesselt hatten. Ja sogar um die Marshallhilfe zu bekommen, schafften sie selbst ihre Verteidigungsindustrie ab.

Hierfür belohnte Washington Ankara mit der geopolitischen Rolle des Erfüllungsgehilfen. Unlängst hatte damit Washington die Unreife und die Unterwürfigkeit der türkischen Verhandlungsführung wahrgenommen. Ankara war nicht in der Lage den Vorteil ihres strategischen Kapitals gewinneinbringend einzusetzen. Zur Bedingung des Kalten Krieges gehörte die Verteidigung des Bosporus und der Südostflanke im Falle eines sowjetischen Angriffes ohnehin zur geopolitischen Strategie Washingtons. Stattdessen beharrte die damalige türkische Politik darauf, dass nur ein Bündnis in der NATO eine konkrete Besatzung der Meerenge verhinderte.

Eine Garantiezusicherung seitens Washington bei einem drohenden Angriff hätte ebenso zu einem militärischen Beistand geführt. Washington war sich im Gegensatz zu Ankara dieser Tatsache bewusst. Ankara hingegen scheinbar nicht und zog eher eine Anstellung als Sicherheitsangestellten in der NATO vor, statt selbstständig eine vitale Verteidigungsindustrie zu formen und aktiv eine wehrhafte Sicherheitsarchitektur zu konzipieren. Die CHP war nicht nur am Scheideweg angelangt, sie hatte dem folgenden Kabinett unter Adnan Menderes alle Ausfahrten aus diesem Diktatweg zugebaut.

Der Fall des Eisernen Vorhanges erzwingt die Suche nach einer neuen geopolitischen Rolle

Das Ende des Kalten Krieges nötigt geradezu eine provokante Schlussfolgerung, dass der Sicherheitsangestellte nunmehr seiner Rolle als Erfüllungsgehilfe beraubt ist und die Anstellung als Sicherheitsangestellten verloren hat und dadurch nach einer neuen Anstellung bestrebt ist. Es ist geradezu das Gegenteil, der Fall des Eisernen Vorhanges ist zwar ähnlich eines Windfall Profits. Jedoch im Ergebnis weitaus gewaltiger und ertragreicher. Das ist nichts für Sicherheitsangestellte oder Erfüllungsgehilfen. Jetzt liegt der geopolitische Profit auf der Straße. Man ist geneigt zu sagen, konkreter und richtiger liegt dieser Profit aber im geostrategischen Raum.

Die Militärs, Geopolitiker, Historiker und das Kapital sind sich dieses Profits bewusst. Nunmehr wird die politische Situation aktiv analysiert. Die Ursachenforschung steht im Vordergrund, der geographische und geopolitische Raum wird wahrgenommen und die gemachten Fehler werden penibel notiert. Dies ist auch zwingend notwendig, will man die wiedergewonnene Freiheit nutzen und genießen, sie mag unverhofft gekommen sein, aber sie zu nutzen, zwingt die wiedergewonnene geographische und politische 360 Grad-Handlungsfähigkeit. Welche zwischen 1945 und 1950 verspielt wurde. So gilt es fortan sich kein Tempoverlust auf dem politischen Schachbrett zu leisten.

Während die alten Eliten schwerfällig auf der Jobsuche sind und sich ihrer stumpfen Berufung des Bewachens selber unterwerfen, beziehungsweise sich dem vorherigen Arbeitgeber mit der Verlängerung ihres Dienstvertrages anbiedern, sind all jene oben genannten Militärs, Geopolitiker, Historiker und die Unternehmer sich darüber bewusst, das geopolitische Spiel zwischen 1945 und 1990 endete mit einem „Remis“. Das Spiel geht weiter, aber diesmal ist ein adäquater und geopolitischer Schachspieler unabdingbar.
Wie nun solch ein omnipotenter geopolitischer Aspirant zu platzieren ist und war, war die epochale Frage. Der Dienstangestellte hatte 1945 ein katastrophales Eröffnungsspiel. Das Mittelspiel setzte die Tragödie fort und wäre es zu einem realen Ausgang der Partie gekommen, ein Remis wäre in die Sphären der Unwahrscheinlichkeiten gerückt.

Ein Spielerwechsel war von Nöten. Der amtierende Spieler eingebildet und trotzig, starr den Stuhl zu räumen und erneut willig das alte monotone Eröffnungsspiel zu wagen.
Das Spiel war jedoch beendet, nunmehr wurde nicht mehr um den Bosporus und die Südostflanke gespielt. Das neue Spiel war eigentlich das Spiel vor 1914 nur in einer neuen Variante. Es galt die Verteidigung des Bosporus für die eigenen Sicherheitsinteressen zu spielen. Das defensive Spiel gebot es durch ein offensives Spiel zu ersetzen und nicht mehr auf die Züge des Gegners zu warten.

Fall des Eisernen Vorhanges

In diesem Momentum liegt der Augenblick des Erwachens der neuen Geopolitik respektive geopolitischen Rolle der Türkei. Der Fall des Eisernen Vorhanges fegte die Schranken zu Zentralasien und zum Kaspischen Raum hinweg. Eine ausschließliche Westorientierung aufgrund des Scheideweges als Kennzeichen verarmter Handlungsräume war hinfällig und korrespondierte nicht mehr mit den geopolitischen Realitäten. Mit der selbstauferlegten beschränkten 45 Grad Sicht auf den Westen zwischen 1945 bis 1990 konnte die neue Welt nicht mehr wahrgenommen werden. Die Perspektive auf die neue Welt aus allen 360 Gradwinkeln besitzt keine Schranken mehr und schon gar nicht eine akute russische Aggression.

Wie damals zu 1945 oblag den russischen Machteliten die Aufgabe nach 1990 vorrangig die Sicherung ihres Kernraumes. Der Spielraum für desperate Expansionsgelüste Richtung Bosporus war schlichtweg nicht existent. Solange dies vorherrschte, galt es die geopolitischen Weichen für die zukünftige Rolle zu stellen und die adäquate politische Größe an das Schachbrett des Great Games zu platzieren, welcher die Neuverteilung der Welt nicht passiv als Erfüllungsgehilfe hinzunehmen gewillt war, sondern aktiv, offensiv und mit einer Vision gestalten sollte. Diese neue geopolitische Rolle manifestiert sich seit der Pandemie militärtechnisch mit den türkischen Drohnen und zugleich in der Außenpolitik in Afrika, Naher Osten, Balkan, Zentralasien.

Unschwer erkennt das politische Individuum aufmerksam die Deckungsgleichheit mit den Einflusssphären des Osmanischen Reiches und unweigerlich, dass die geopolitische Rolle sich auch auf Mittelamerika, Lateinamerika und in Südostasien ausgeweitet hat. Wie der Erfüllungsgehilfe fremder Interessenpolitik vom Schachbrett geholt wurde, ist ebenso spannend aufzuzeigen wie die vorliegende Analyse der geopolitischen Rolle zwischen 1945 und 1990. Die Aufarbeitung der geopolitischen Rolle ist umfangreich und dringend weiterzuführen!


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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