Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß
Die subtile Tendenziösität des SPIEGEL in seiner Berichterstattung über die jüngste Zuspitzung des Berg-Karabach-Konflikts offenbart sich auch im neuesten Heft.
In voller Klarheit erkennbar ist sie am Gebrauch des Wortes „Enklave“. Im zweiseitigen Artikel zu Berg-Karabach wird das Wort gleich zwei Mal auf das Gebiet angewendet.
Auf Seite 96 ist von der „Rückeroberung der überwiegend armenisch besiedelten Enklave Bergkarabach“ die Rede, und auf Seite 97 heißt es: „Vor allem Aserbaidschan scheint die Lage nutzen zu wollen, […] für die Rückeroberung der abtrünnigen Enklave zu kämpfen.“ (Zitate aus Alasaad/ Perrier/ Reuter 2020).
Sorry, wenn ich an dieser Stelle kurz den Deutschlehrer spielen muss, aber offenbar ist das dringender nötig denn je. Eine „Enklave“ ist laut Definitionen des DUDEN ein „vom eigenen Staatsgebiet eingeschlossener Teil eines fremden Staatsgebiets“ (Müller et al. 1974: 209, s.v. Enklave), „ein fremdstaatl[iches] Gebiet im eigenen Staatsgebiet“ (Wermke/ Kunkel-Razum/ Scholze-Stubenrecht 2004: 338, s.v. Enklave).
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Dadurch, dass immerhin drei Autoren des reißerischen SPIEGEL-Artikels Berg-Karabach als „Enklave“ titulieren, machen sie es kurzerhand zu einem Teil eines fremden Staates. Und das ungeachtet der international unter anderem durch vier UN-Resolutionen aus dem Jahr 1993 klar bestätigten völkerrechtlichen Zugehörigkeit Berg-Karabachs (und der anderen von Armenien besetzten Gebiete) zu Aserbaidschan. Nähme man diesen Wortgebrauch ernst, würde dies des Weiteren bedeuten, dass die von armenischen Separatisten ausgerufene sogenannte „Republik Artsakh“ zugleich Teil eines fremden Staatsgebietes (mutmaßlich Armeniens) sei, was meines Wissens nicht einmal Armenien behauptet.
Warum spiele ich hier den Herrn Oberlehrer?
Erstens: weil es nicht das erste Mal ist, dass der Begriff „Enklave“ in deutschen Mainstreammedien im Zusammenhang mit dem Berg-Karabach-Konflikt in derart falscher Weise gebraucht wird. Die Sache wirkt also nicht unbedingt nur zufällig.
Zweitens: Es ist alles andere als eine Kleinigkeit, Termini von so gravierender internationaler politischer Tragweite konsequent falsch anzuwenden. Schließlich – auch wenn das der vom SPIEGEL wiederholt bedienten Saga vom ,religiös motiviertenʻ (Christen gegen Muslime) Krieg um Berg-Karabach widerspricht – ist die völkerrechtliche und politische Zugehörigkeit des Gebiets das os contentionis der ganzen Sache, und zwar seit Beginn des Konflikts. Wenn der vom SPIEGEL in den deutschen Lesermassen gestreute angebliche „Enklaven“-Status Berg-Karabachs tatsächlich gegeben wäre, würde Aserbaidschan automatisch zu einem Aggressor, der fremdes Territorium angreift. Das scheint genau die Richtung zu sein, in der der SPIEGEL sich mit seinem Wortgebrauch bewegt.
Wie der SPIEGEL die historischen Fakten durch bewusste Verkürzung und Simplifizierung zurechtstutzt, damit sie in sein anti-aserbaidschanisches Bild passen, zeigt auch der etwas kryptische und in dramatische Worte gekleidete Hinweis im selben Artikel, dass die jetzt für Aserbaidschan in Berg-Karabach kämpfenden Syrer „zum späten Opfer der Machtspiele Stalins“ geworden seien (Alasaad/ Perrier/ Reuter 2020).
Die rhetorische Finte, die in dieser Andeutung steckt, besteht darin, dass der deutsche Leser (zumindest wenn er nicht Anhänger einer poststalinistischen Populistenpartei ist) hier automatisch den Eindruck gewinnen muss, dass die aserbaidschanische Sache natürlich unrechtmäßig, weil von Stalin bewirkt worden sei. Der SPIEGEL weiß dabei allerdings natürlich genau, dass kaum einer seiner Leser sich die Mühe machen wird, nachzulesen, wie sich die komplizierte Geschichte wirklich zutrug.
Dass beispielsweise an der entscheidenden Sitzung des Kaukasusbüros der Bolschewiki-Partei vom 5. Juli 1921 keinesfalls nur Stalin als Beschließender teilnahm, sondern auch ein armenischer, ein aserbaidschanischer und zwei georgische Plenumsmitglieder (was man sogar bei armenischen Autoren nachlesen kann: Hakobian et al. 1993: 156). Dass in dem am 5. Juli 1921 mit vier Dafürstimmen und einer Enthaltung gefassten Beschluss davon die Rede ist, dass Berg-Karabach bei der Aserbaidschanischen SSR „verbleiben“ (ostavit´) solle, was wiederum impliziert, dass es schon zu ihr gehörte. Oder: Das Stalin im Jahr 1921, zu Lebzeiten Lenins, noch keineswegs der alleinige Machthaber in der Sowjetunion war. Und so weiter.
Egal. Was für den auflagengeilen, sachliche Faktendarstellung unter reißerisches Storytelling stellenden gegenwärtigen SPIEGEL (ich kenne das Blatt aus Augstein Seniors Zeiten noch ganz anders) zählt, ist eine Schwarz-Weiß-Frosch-Perspektive, mit der er ungeachtet internationaler Rechtsfestlegungen und geschichtlicher Fakten der eigenen Voreingenommenheit applaudieren kann.
Ist das Relotius 2.0? Oder hat sich seit dem Auffliegen des Lügenreporters in den SPIEGEL-Redaktionen vielleicht doch nicht so viel geändert, wie behauptet? Oder ist das schon die im Journalismus angekommene Generation der von Pisa und Rechtschreibreform um ihr Bildungsniveau Gebrachten?
Die von vielen Medienvertretern gern und lautstark bejammerte Krise des Journalismus beziehungsweise des (oft als Selbstreferenz auftauchenden) „Qualitätsjournalismus“ hat auch mit einem Verfall an Sorgfalt zu tun, mit einer wurstigen Gleichgültigkeit und Unwilligkeit, seine eigenen Positionen zu hinterfragen und zu schärfen, auch zu recherchieren. Wenn sich das nicht ändert, und zwar durchgreifend und dauerhaft, braucht diese Art von Journalismus niemand mehr. Für mich ist der SPIEGEL jetzt angezählt. Ich muss nicht für immer Abonnent bleiben.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe und seit 2005 Privatdozent an der FU Berlin. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417). Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.
BelegeAlasaad/ Perrier/ Reuter 2020. Alasaad, Daham/ Perrier, Guillaume/ Reuter, Christoph: Bis zum letzten Syrer. DER SPIEGEL 45 (30. Oktober 2020): 96f.Hakobian 1993. Hakobian, Hravard: Zur Geschichte Arzachs im Mittelalter in kulturgeschichtlicher Hinsicht. Übers. Richter, Manfred. In: Hakobian, Hravard et al.: Armenisches Berg-Karabach/ Arzach im Überlebenskampf. Christliche Kunst – Kultur – Geschichte. Richter, Manfred (Hgg.). Berlin: Edition Hentrich. 15-66.Müller et al. 1974. Müller, Wolfgang et al.: DUDEN Fremdwörterbuch. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag.Wermke/ Kunkel-Razum/ Scholze-Stubenrecht 2004. Wermke, Matthias / Kunkel-Razum. Kathrin/ Scholze-Stubenrecht, Werner (Hgg.): DUDEN. Die deutsche Rechtschreibung. 23., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim usw.: Dudenverlag.