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Bergkarabach-Konflikt
Prof. Wilfried Fuhrmann: Aserbaidschan hat 27 Jahre das Unrecht der Okkupation ertragen

Die Lage des armenischen Militärs erscheint stark bedrängt. Aber Aufrufe und Artikel, dass man Armenien helfen und/oder den Druck auf Aserbaidschan massiv erhöhen müsse, um ein drohendes Blutbad oder Massaker an 60.000 Menschen zu verhindern, sind eine beleidigende Parteinahme, die zugleich Ängste schürt und den Aserbaidschanern Teuflisches unterstellt.

In der Ortschaft Hodschali haben armenische Einheiten in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 über 613 Zivilisten (Frauen, Kinder und Alte) mit einer unglaublichen Brutalität auf bestialische Weise ermordet und die Ortschaft komplett zerstört.
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Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann, Potsdam

Seit über vier Wochen tobt der Krieg auf dem Boden der Republik Aserbaidschan, es ist ein Krieg, in dem Aserbaidschan auf seinem eigenen Territorium okkupierte Gebiete befreit. Dieses sind die von Armenien völkerrechtswidrig besetzten sieben Distrikte/Gebiete sowie Berg-Karabach.

I.
Der Kampf wurde zunächst verstärkt im Südwesten um die Distrikte Fuzuli, Jabrayil und Zangilan geführt, die einschließlich ihrer Hauptstädte inzwischen befreit sind. Es sind Gebiete, die im Jahre 1989 und damit vor dem 1994 mit einem Waffenstillstand unterbrochenen Krieg laut der letzten Einwohnerstatistik der Sowjetunion zu rd. 98 % von Aserbaidschanern bewohnt waren sowie u.a. von 224 Armeniern (weniger als 0,2 %). Die Kosten dieser Befreiungserfolge sind hoch.

Die Toten ehrt der aserbaidschanische Präsident als Märtyrer. Es handelt sich bei diesen Distrikten um eher tiefer gelegene Gebiete mit bergigem Anstieg nach Bergkarabach. Sie liegen entlang des Flusses Araz, so dass diese gesamte Staatsgrenze zur Republik Iran wieder von Baku kontrolliert wird. Damit sind auch historische Monumente wie bspw. die Steinbogen-Brücken nahe der Ortschaft Gumlag aus dem 11.-12. Jahrhundert, Teil der alten Seidenstraße, wieder befreit. Natürlich gab es heftigen Widerstand, die vielen Minenfelder und –sperren verzögerten den Vormarsch besonders. Die Toten sind Märtyrer, so der aserbaidschanische Präsident.

Zu den von der „Süd-Armee“ zu befreienden Distrikten gehört auch der bereits bergige Distrikt Khojavand, der zu größeren Teilen ebenfalls bereit rückerobert wurde.

Mit der Eroberung von Zangilan schwenkte die militärische Stoßrichtung nach Westen, wo inzwischen mehr als der halbe Distrikt Gubadly befreit ist, aber z.T. noch unter Kanonen-Beschuß zu liegen scheint. Mit der Eroberung der der Ortschaften Alagarshag und Khangli ist die aserbaidschanische Armee ab jetzt auf „geradem“ Wege nach Lachin und damit zum sog. Lachin-Korridor. Zu Friedenzeiten wäre es eine Autofahrt auf der alten, fast geraden (natürlich nicht ebenen) aserbaidschanischen Straße von ca. 50 km gewesen.

Aber es jetzt sind nicht nur die Kriegshandlungen zu berücksichtigen, sondern auch die allgemein bekannten Tatsachen, dass Armenien in den okkupierten Gebieten in den vergangenen rd. 30 Jahren nicht nur keine neue Infrastruktur gebaut hat, sondern die alte aserbaidschanische hat verfallen lassen. Die Republik Armenien selbst hat sehr viel freies Land, es wurde von der zuvor nicht einmal ausreichend versorgten, verarmten Bevölkerung verlassen (Landflucht in die Außenbezirke von Eriwan oder ins Ausland). Armenien kann die okkupierten Gebiete insgesamt gar nicht besiedeln.

Es nutzt sie zur Arrondierung und Flankensicherung für Bergkarabach sowie als Müll- und Schrotthalde (auch für radioaktive Abfälle) und zur Rohstoffgewinnung (wertvolle Hölzer – auch für europäische Edellimousinen – sowie zur Gewinnung von Erzen usf.). Selbst alte Staudämme werden nicht Instand gehalten, so dass Dammbrüche mit möglicherweise verheerenden Wasserfluten die Menschen in Aserbaidschan, nicht aber in Armenien bedrohen – im Falle eines Dammbruchs läuft das Wasser bergab ins tiefer gelegene Aserbaidschan. Aserbaidschan beginnt nach der Rückeroberung eines Distriktes jeweils mit Instandsetzungsarbeiten.

Eigentlich ist auf dem Weg nach Lachin mit stärkerem Widerstand zu rechnen, sofern die armenischen Einheiten nicht schon zu stark geschwächt wurden (Material- und Versorgungs-engpässe; sinkende Mannschaftsstärken können ohne Kinder oder Söldner kaum aufgefüllt werden). Der Lachin-Korridor ist der „breite“ Zugang nach Berg-Karabach, also ins Gebirge mit der tiefer gelegenen Ebene. Durch diesen Korridor, quasi die Lebensader, erfolgen Versorgung und Nachschub für Berg-Karabach.

Und hier stellt sich sehr bald für die dort kämpfenden Einheiten bzw. für jeden einzelnen Soldaten eine entscheidende Frage: Soll ich schnell noch über den Korridor aus Berg-Karabach raus oder will ich dort kämpfend (für was genau?) sterben oder will ich bleiben und ggfs. letztmöglich erst vor den einrückenden Aserbaidschanern die Waffen niederlegen. Wer bzw. wieviel Militär lässt sich also bei einem weiteren Vorstoß in Berg-Karabach einkesseln. Der Präsident Aserbaidschans hat der Zivilbevölkerung dort versichert, ihre Staatsbürgerschaft zu respektieren und unmittelbar ihre Versorgung zu sichern. Allen Soldaten, die ihre Waffen niederlegen, hat er Vergleichbares und die Einhaltung aller internationalen Regelungen zugesichert. Dieses erfolgte weltöffentlich.

II.
Die Lage des armenischen Militärs erscheint stark bedrängt. Aber Aufrufe und Artikel, dass man Armenien helfen und/oder den Druck auf Aserbaidschan massiv erhöhen müsse, um ein drohendes Blutbad oder Massaker an 60.000 Menschen zu verhindern, sind eine beleidigende Parteinahme, die zugleich Ängste schürt und den Aserbaidschanern Teuflisches unterstellt – insbesondere, wenn dabei u.a. auf Jugoslawien verwiesen wird. Ignoriert oder angezweifelt werden die öffentliche Erklärung des aserbaidschanischen Präsidenten ebenso wie die Ereignisse des Krieges und der Okkupation seit 1993. Aserbaidschan hat 27 Jahre der Völkergemeinschaft und dem Internationalen Recht vertraut, darauf gehofft und sich dem Recht entsprechend verhalten. Es hat 27 Jahre das Unrecht der Okkupation ertragen und die hohen menschlichen sowie materiellen Verluste/Schäden getragen.

Auch im jetzigen Krieg hält es sich an das Völkerrecht und beachtet strikt die internationale Grenze zu Armenien, während von armenischem Boden aserbaidschanische Städte mit großkalibrigen Granaten beschossen und bombardiert werden. Es gibt aber keine Kriegserklärung Armeniens. Folge dieser Kriegshandlungen sind Tote (u.a. auch Ausländer, wie bspw. ein russisches Kind) und Verletzte neben großen materiellen Schäden wie bspw. die nahezu vollkommen zerstörte Stadt Teter (siehe ARD, Tagesthemen am 25.10.20). Man schießt aus sicheren Stellungen in Armenien bis in die Nähe der Pipelines sowie an die Küste des Kaspischen Meeres und demonstriert bei Teter die mögliche Treffgenauigkeit – wohlwissend, dass Aserbaidschan keinen Krieg gegen die Republik Armenien führt und selten zur reinen Vergeltung zurückschießen wird.

Russland würde ansonsten seinen Bündnispartner verteidigen müssen, obwohl es nicht in den Krieg reingezogen werden will, da es beide Völker als „Brüder“ betrachtet (Außenminister Lawrow am 26.10.20) – Brüder im alten Sinne der gescheiterten UdSSR oder potentieller Partner Moskaus?

Zugleich versucht Russland andere Drittstaaten rauszuhalten (Frankreich, Türkei usw.), denn es kann weder an einer Destabilisierung des Kaukasus durch Drittstaaten wie bspw. Frankreich oder an der dann Zustrom erhaltenden Idee einer Union Islamischer Staaten noch an einer weiteren emotional gesteigerten Nationalisierung interessiert sein. Allerdings, das zeigen wohl die steigenden Frachtflugbewegungen nach Eriwan an, scheinen diese Bemühungen nicht ganz erfolgreich zu sein.

Entspricht jede derartig geforderte einseitige Druckausübung nicht schon einer Einmischung, manipuliert sie nicht die Wahrnehmung der Öffentlichkeit? Und entspricht sie nicht einer faktischen Politik der OSZE-Gruppe, die nicht dem Völkerrecht zum Durchbruch verhalf, sondern den Okkupations-Status zu Lasten Aserbaidschans nur stets weiter zementierte? Man sollte dem wohl größten Versagen der Diplomatie in der Neuzeit nicht noch eines des Journalismus folgen lassen.

Denn besonders beleidigend ist, dass derartige „Warnungen“ und Aufrufen suggerieren, dass in dem Krieg 1988-1994 Aserbaidschaner die Massaker verübt haben und nicht die Opfer waren. Schließlich wurden alle Aserbaidschaner aus diesem aserbaidschanischen Siedlungsgebiet systematisch vertrieben oder getötet, so dass dort kein Aserbaidschaner lebt und noch heute niemand in die alte Heimat zurückkehren darf. Dieser Tatbestand spiegelt wohl eher einen an Aserbaidschanern verübten Genozid.

Die Bombardierungen aserbaidschanischer Städte durch die armenische Armee ist eine Art von Terror zwecks Demoralisierung der Aserbaidschaner. Aber angesichts der Erfolge der letzten vier Wochen im Verhältnis zu dem negativen Ergebnis der Diplomatie seit 27 Jahren: wieder Krieg und wieder Tote, geht der Versuch der Demoralisierung wahrscheinlich ins Leere. Eher motiviert es das aserbaidschanische Volk, führt es noch stärker zusammen und stärkt die Macht des Präsidenten. Aber eine derartige „Warnung“ verführt möglicherweise junge Männer aus verschiedenen Ländern (Griechenland, Frankreich, Libanon, Libyen usw.), Armenien als Söldner zur Hilfe zu eilen. Auch deutsche Politiker besuchten Berg-Karabach und versprachen Hilfe.

Bedrohlicher aber ist es, dass der staatliche Bombardierungs-Terror zu einem „zivilen“ Anschlags- und Bomben-Terror führen kann. So warnte die US-Botschaft in Baku kürzlich (am 24.10.20) vor Terroranschlägen in Aserbaidschan. Und (aus welchem Grund auch immer) denkt der in Baku lebende Mensch sofort an die rd. 30.000 dort friedlich lebenden Armenier (bei gleichzeitig keinem Aserbaidschaner in Armenien). Und diese Gefahr des „individuellen“ Terrors steigt angesichts der stark zunehmenden Frachtflüge nach Eriwan (wahrscheinlich mit militärischer Ausrichtung hin und evtl. mit flüchtigen Reichen zurück), insbesondere wenn sich herumspricht, welche Länder derart heimlich Armenien unterstützen.

Mögen gutgemeinte Aufrufe und Hilfen sowie nationalistische Appelle zu keiner weiteren Emotionalisierung führen. Verantwortung ist gefragt – sonst kann es viele Tote geben.

III.
Der Befreiungsweg von Lachin nach Bergkarabach führt zuerst nach Schuscha, einer Geburtsstätte aserbaidschanischer Kultur sowie einem Musikkonservatorium des ganzen Kaukasus. Schuschaii wurde am 8.Mai 1992 besetzt. Im Falle seiner Befreiung geht es um die Befreiung von Chodchali, sofern das nicht schon von anderen Kräften befreit wurde. Chodchali wurde am 26. Februar 1992 besetzt, nach dem der Flughafen und damit der letzte Weg für Versorgung und Evakuierung durch Armenier erobert wurde. Hier fand das Massaker an Aserbaidschanern, die Tragödie von Chodchali, statt. Dieses Ereignis hat sich tief in das Bewusstsein des Volkes eingebrannt.

Die Befreiung von Chodchali wäre für Aserbaidschan zugleich die Befreiung von einem schweren Trauma. Sie wäre für Armenien ebenfalls eine Befreiung von der Last „Berg-Karabach“, welche die Möglichkeiten der Republik Armenien zunehmend überfordert und derart das Leben der Armenier extrem erschwert und belastet hat. Schließlich sehnen sich die Armenier nicht nach Kriegen und den Machtträumen von Eliten, sondern nach Ruhe und Heimat, nach Aufbau und nachhaltiger Beständigkeit – nach Leben wie jedes freie offene Volk.

IV.
Die aserbaidschanische Strategie entspricht einer Zangenbewegung. So kämpft sich Aserbaidschan nicht nur über den südwestlichen Weg vor, sondern auch über die nördlich von Berg-Karabach gelegenen besetzten Distrikte. Dieser nördliche Armeeflügel befreit die Distrikte Aghdam sowie Terter, beide sind nur zum Teil besetzt und Terter liegt im freien Distriktteil. In dem bereits großteils befreiten Distrikt Kalbajar erfolgt der militärische Schwenk in den Distrikt Lachin um sich mit dem südliche Flügel zu vereinen bzw. den Lachin-Korridor von beiden Seiten zu befreien. Bei einer erfolgreichen Zangenbewegung hat Aserbaidschan wieder seinen gesamten völkerrechtlichen Grenzverlauf unter Kontrolle und das Gebiet Berg-Karabach wäre eine „Insel“ in Aserbaidschan.

V.
Es erscheint offen, ob es dann zu einer zuvor diskutierten Autonomen Zone/Republik Berg-Karabach kommt,iii da es unmittelbar (und damit vor der Rückkehr der vertriebenen Familien) und in absehbarer Zeit zu keiner „Volksabstimmung“ kommen kann und wird.

Aber gleichwohl sollte die Zukunft bedacht und geplant werden. Es bedarf keiner Ausführung, dass zunächst eine Infrastruktur (einschl. des Flughafens) geschaffen werden muß. Offen wird die „Widmung“ bzw. Neu-Ausrichtung von Berg-Karabach. Eine Option besteht in der Einrichtung einer Kultur- und Forschungszone (Sonderzone) Berg-Karabach, in der Kultur- und Forschungseinrichtungen einschließlich Hotels und Kurkliniken anzusiedeln sind. Auch der dafür notwendige institutionelle, juristische und gesellschaftliche Rahmens ist noch nicht zu diskutieren, sondern, wenn überhaupt schon, dann nur das Ziel: Die Gesamtheit dieser Einrichtungen könnte ein weltweit einzigartiges Kultur- und Forschungscluster bilden. Hierzu könnten alle Länder (von Russland bis Armenien, von Georgien bis zur Türkei usw. usf.) eingeladen werden, um mit eigenen oder gemeinsamen Musik- und Theaterschulen, Forschungseinrichtungen usw. daran teilzuhaben.

Berg-Karabach könnte so im Falle eines erfolgreichen Befreiungskrieges viele Wunden schneller heilen lassen und ein regionales Cluster einer gemeinsamen Zukunft werden.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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