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Historie
„Pfeif nachts nicht!“ – Die stille Verwandtschaft zwischen Türken und Indianern

Was auf den ersten Blick wie ein Aberglaube wirkt, offenbart sich bei näherer Betrachtung als Teil eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses – über Kontinente und Jahrtausende hinweg.

Sibirischer Schamane aus dem 17. Jahrhundert, (Bild: N.Witsen/CC BY 3.0/Wikimedia)
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Von Çağıl Çayır

In scheinbar kleinen Alltagsregeln spiegelt sich oft ein großes kulturelles Erbe wider. Einer dieser unscheinbaren, aber tief verwurzelten Bräuche verbindet auf verblüffende Weise zwei weit voneinander entfernte Kulturwelten: die der Turkvölker Eurasiens und der indigenen Völker Amerikas. Die Regel lautet schlicht: „Pfeif nachts nicht!

Was auf den ersten Blick wie ein Aberglaube wirkt, offenbart sich bei näherer Betrachtung als Teil eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses – über Kontinente und Jahrtausende hinweg.

Eine geteilte Warnung

Ob im türkischen Dorf in Anatolien oder im Reservat der Navajo im Südwesten der USA, ob bei den Jakuten in Sibirien oder bei den Hawaiianern im Pazifik – die Warnung ist dieselbe:

Wer nachts pfeift, ruft Unheil herbei. In der türkischen Volkskultur etwa heißt es: “Gece ıslık çalma, şeytan gelir” – „Pfeif nachts nicht, sonst kommt der Teufel.“

Auch in Korea und Teilen Chinas ist der Brauch bekannt: Nachts zu pfeifen gilt dort als gefährlich, da man damit Geister oder Unheil anzieht. In Korea sagt man etwa: „Wenn du nachts pfeifst, kommt eine Schlange.“ Ähnliche Warnungen finden sich bei verschiedenen Volksgruppen in China.

Was verblüfft: Diese Regel wird oft nicht als religiöses Gebot, sondern als familiäre Weisheit weitergegeben – meist von der Mutter oder Großmutter. Sie gehört zum ungeschriebenen Erziehungsschatz vieler Gemeinschaften und wird als Teil der Lebensklugheit betrachtet.

Woher kommt diese Parallele?

Die Gemeinsamkeit ist zu auffällig, um bloß als Zufall abgetan zu werden. Anthropologen und Genetiker wissen inzwischen, dass die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner vor etwa 15.000–20.000 Jahren aus Sibirien über die Beringbrücke nach Amerika einwanderten. Genau aus jenem Raum, aus dem auch die frühen Turkvölker stammen: der Region rund um das Altai-Gebirge.

Dort, im Herzen Asiens, liegt ein uraltes kulturelles Zentrum, aus dem sich sowohl Turkstämme als auch frühe eurasische Nomadenkulturen entwickelten. Es ist denkbar, dass bestimmte Weltbilder, Tabus und spirituelle Praktiken diesen Völkern bereits gemeinsam waren – lange bevor sie sich geografisch trennten.

Schamanismus als geistiges Band

Ein weiteres gemeinsames Erbe ist der Schamanismus. In den traditionellen Weltbildern vieler Turkvölker wie auch indianischer Gemeinschaften spielen Schamanen eine zentrale Rolle:

Sie sind Mittler zwischen Mensch und Geistwelt, zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde. Für beide Kulturen ist die Nacht eine besonders sensible Zeit, in der die Geisterwelt aktiv wird.

Das Pfeifen – ein durchdringender, nichtmenschlicher Klang – galt dabei als potenzieller Ruf in die Zwischenwelt. Es wurde als Störung der natürlichen Ordnung empfunden. Das Tabu ist also nicht nur ein Aberglaube, sondern Ausdruck eines spirituellen Weltverständnisses, das Respekt vor der Unsichtbarkeit der Nacht verlangt.

Kulturelle Kontinuität über Jahrtausende

Die Übereinstimmungen zwischen Türken und Indianern reichen weit über das Nachtpfeifen hinaus: Beide betonen die Bedeutung der Natur, kennen heilende Lieder, glauben an sprechende Tiere und verehren bestimmte Berge oder heilige Orte. Beide Kulturen pflegen mündliche Erzähltraditionen, verehren Ahnen und glauben, dass Worte eine besondere Kraft besitzen.

Die Idee, dass eine scheinbar einfache Regel wie das Nachtpfeifen beide Kulturen verbindet, zeigt, wie tief das gemeinsame Erbe reicht – nicht im Sinne biologischer Abstammung, sondern kultureller Verwurzelung.

Erinnerung an das Gemeinsame

Gerade in einer Zeit, in der Kulturen gegeneinander ausgespielt oder gegeneinander abgeschottet werden, lohnt es sich, auf diese uralten Parallelen zu blicken. Sie erinnern daran, dass wir Menschen mehr verbindet als trennt.

Dass selbst ein stiller Rat wie „Pfeif nachts nicht“ ein Echo aus einer Zeit sein kann, in der unsere Vorfahren noch gemeinsam durch die Steppe zogen – und dem Wind lauschten, anstatt ihn mit Tönen herauszufordern.

Vielleicht liegt in dieser stillen Verwandtschaft zwischen Türken und Indianern ein Schlüssel für ein neues Denken: eins, das nicht von Grenzen, sondern von Verbindungen ausgeht.

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