Ein Gastkommengar von Klaus Jürgens
Sir Keir Starmer brachte es in seiner ersten Ansprache als Premierminister des Vereinigten Königreichs vor der Eingangstür zum Amtssitz in Nummer 10 Downing Street eindeutig zum Ausdruck: er wolle ein Premierminister für alle Briten sein, und gerade auch für diejenigen unter ihnen die ihre Stimme nicht seiner Labour-Partei gegeben hatten.
Was uns direkt zum heiß diskutierten Punkt führt: wie ist es möglich das eine Partei die lediglich 33.8 Prozent aller Wählerstimmen erhält eine absolute Mehrheit im 650 Mitglieder umfassenden Unterhaus, genauer gesagt 411 Abgeordnete, stellen darf? Antwort: es ist das sehr spezielle britische Wahlsystem, hier als FPTP oder ‚first past the post‘ tituliert im Sinne von ‚wer als erster durch die Zielgerade kommt, gewinnt auch den Sitz.‘
Beispiel: in allen 650 Wahlkreisen gewinnt Partei A mit 51 Prozenten, während Partei B in denselben Wahlkreisen auf 49 Prozente kommt. Resultat: alle 650 Sitzen gehen an Partei A. Wir kommen zu Ende dieses Meinungsbeitrages noch einmal auf dieses Thema zurück.
Das Ergebnis und wie von der offiziellen Stelle ‚commonslibrary.parliament.uk‘ heute am Tag nach der Wahl verkündet: Labour 411 Sitze, Konservative 121 Sitze, Liberaldemokraten 71 Sitze, Reformpartei 5 Sitze, Grüne 4 Sitze, die Schottische Nationalpartei 9 Sitze; der Rest ging an Andere. In Prozenten (s. Kommentar oben): Labour 33.8, Konservative 23.7, Reform 14.3, Liberaldemokraten 12.2, Grüne 6.8, Schottische Nationalpartei 2.4.
In Starmers Kabinett werden und wie es derzeit aussieht 22 Minister vertreten sein, wobei es bedeutsam ist festzuhalten, das genau die Hälfte davon Frauen sind. Einige Schlüsselpersonalien sollten hier kurz angesprochen werden: Starmer selber ging erst spät in die Politik, genauer gesagt im Jahr 2015. Er war ein führender Regierungsbeamter als Direktor der Staatsanwaltschaft gewesen.
Seine Stellvertreterin wird Angela Rayner, die von vielen in der Bevölkerung als ‚eine von uns‘ angesehen wird, sie wurde eine junge Mutter mit 16 Jahren und wuchs in einer Sozialwohnung auf. Rachel Reeves wird Geschichte schreiben – die erste weibliche Finanzministerin die das Land je gesehen hat. Und natürlich David Lammy, der neue Außenminister. Er symbolisiert die Tatsache das Hautfarbe oder Religion keinerlei Rolle spielen, wenn Führungspositionen bei Labour vergeben werden.
Bevor wir einen Ausblick auf die zukünftigen internationalen Beziehungen wagen, sollten wir uns noch einmal den gerade abgeschlossenen Wahlkampf betrachten. Er war von zwei miteinander verflochtenen Fragestellungen beherrscht. Erstens – soziale Kompetenz der Spitzenkandidaten. Zweitens – Themen.
Und beim ersten Punkt schnitt Sir Keir Starmer weitaus besser ab als Rishi Sunak, sein Vorgänger im Amt des Premierministers. In Umfragen wurde Sunak vorgeworfen er sei nicht mehr in Kontakt mit dem Durchschnittsbürger, abgehoben von der Realität der Wähler. Dann kam seine vorzeitige Abreise von den D-Day-Feierlichkeiten hinzu die vor allem in einer der Hauptwählergruppen der Konservativen – Bürger über 65 Jahren – extrem schlecht ankam.
Beim zweiten Punkt – den Themen – punktete ebenso die Labour-Partei. Lebenshaltungskosten explodierten in den letzten Jahren, die Inflation steigt und steigt. Das nationale Gesundheitssystem steckt in einer Krise. Wenn man dann die Unzufriedenheit der Bürger bezüglich der Frage wie die Konservativen die COVID-19 Pandemie handhabten inklusive unerlaubter Bürotrinkgelage und zusätzlich das Thema illegale Migration hervorheben entwickelt sich ein klares Bild zugunsten Starmers.
Sunak verlor bei seiner eigenen sozialen Kompetenz; Sunak’s Partei bei den meisten thematischen Kompetenzen.
Und dann gibt es da noch ein Thema: Brexit. Selbst die Konservative Partei, die 2016 zum Urnengang per Referendum aufforderte, konnte eben diesen Brexit nicht erfolgreich handhaben. Die Menschen sind beinahe schon in einer Mehrheit gegen den Brexit, die Umkehr vom Ergebnis des Referendums. Und hier punktete die ehemalige Brexit-Bewegung um Nigel Farage der satte 14.3 Prozent der Stimmen einfahren konnte, aber wie o.a. nur mit fünf Sitzen belohnt wurde.
Zuletzt zum kurzen Ausblick bezüglich bi-lateraler und internationaler Beziehungen. Obwohl immer sehr eng, die Tatsache, dass nun in London und Berlin zwei Sozialdemokraten am Ruder sind könnte positive Wirkungen haben. Obwohl für viele in der SPD Labour immer etwas zu weit links stand, ähnlich wie die Sozialisten in Frankreich, könnte Berlin eine indirekte erneute Annäherung an die EU bewerkstelligen.
Bezüglich genau dieser EU ist allerdings nicht zu erwarten das Labour das Brexit-Verfahren wieder aufrollen möchte. Aber enger mit Brüssel zusammen zu arbeiten scheint durchaus möglich zu sein.
Washington und London sind immer engste Verbündete, und die Jahre unter Labour’s Tony Blair sprechen hierbei Bände. Es sieht so aus, als ob David Lammy hier keinen Kurswechsel vornehmen wird, wahrscheinlich wird seine und Starmers erste Auslandsreise nach der Wahl auch in die Vereinigten Staaten führen.
Und wie sieht es zwischen Ankara und London aus? In den letzten Jahren, oder fast schon Jahrzehnten ist die bi-laterale Achse eigentlich als ein Vorbildmodell zu bezeichnen. Wirtschaft, Tourismus, Bildung, generelle Fragen im Bereich der auswärtigen Beziehungen – wohl mit einem Thema, welches differenziert ausgelegt wird – Ukraine und Kontakte zu Moskau – sind hierbei hervorzuheben. Es würde keinen verwundern, wenn kurz nach der Sommerpause David Lammy seinen diplomatischen Koffer packt und noch vor Paris oder Berlin nach Türkiye reist.
Zurück zum Anfang dieser Analyse und dem Wahlsystem: während in Frankreich über 30 Prozent, in Europa (EP-Wahl) rund jeder Vierte Wähler extrem rechts ankreuzen, fragten sich viele Beobachter ob im Vereinigten Königreich derselbe Trend spürbar werde. 14.3 Prozent sind weder 25 noch 34 Prozente, aber Nigel Farages‘ Reformpartei steht ebenso extrem Rechtsaußen. Hätte man ein proportionelles Wahlsystem hätten die Konservativen und die Reformpartei sogar eine Regierungsmehrheit – sollten sie denn das politische Bett teilen wollen.
Wie ‚links‘ wird Labour agieren, wie weit nach ‚rechts‘ Richtung Reformpartei werden die Konservativen abdriften? Und was können die anderen Parteien, z.B. die Liberaldemokraten im Unterhaus erreichen?
Sir Keir Starmer hat wie jeder andere Neugewählte Amtsinhaber seine 100 Tage Schonzeit. Es erscheint hierbei als äußerst hilfreich das das gesamte Land nun in die Sommerferien aufbricht – Zeit für sein Team sich auf Tag 101 vorzubereiten.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.