ein Gastkommentar von Nabi Yücel
Der ehemalige türkische Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses Kemal Kılıçdaroğlu will das Schiff noch heil am Hafen anlegen. Doch es droht Ungemach. Neuen Medienberichten zufolge ist der parteiinterne Zank noch größer als bisher angenommen. Partei hörige TV-Sender und Journalisten üben heftige Kritik am Kurs von Kemal Kılıçdaroğlu und fordern seine Abdankung vom Parteivorsitz der CHP.
Bei der Präsidentschaftswahl von 2014 konnte Kemal Kılıçdaroğlu nicht punkten. Beim Verfassungsreferendum in der Türkei im Jahre 2017 konnte der Oppositionschef trotz Schwarzmalerei die neue verfassungsrechtliche Stellung des Präsidenten nicht verhindern. Bei der vorgezogenen Wahl zur 27. Großen Nationalversammlung der Türkei dümpelte die CHP immer noch bei rund 22 Prozent und hätte auch mit einer Großen Koalition keine Regierungsmehrheit erreicht. Bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei im Mai 2023 kratzte es zusammen mit 5 weiteren Parteien gerade mal die 48-Prozent-Marke an.
Nach der jüngsten Wahl erklärte Kemal Kılıçdaroğlu, dass „Schiff“ sicher am Hafen anlegen zu wollen. Gemeint ist damit die Kommunalwahl in der Türkei im März 2024. Offensichtlich will Kılıçdaroğlu nach 9 Wahlniederlagen noch seine Reputation wiederherstellen. Aber nehmen ihm das die Wähler noch ab? Vor allem, wie ist die Wahrnehmung im Parteiinneren und unterm Volk nach über 22 Jahren als Oppositionschef?
Jüngstes Beispiel: Kemal Kılıçdaroğlu trat nach der Kommunalwahl 2014 im Parlament vor seine Fraktionsmitglieder und monierte dabei den Verlust der Metropole Istanbul, um sodann den damals aussichtsreichsten CHP-Kandidaten Mustafa Sarıgül der Korruption zu bezichtigen. Nicht einmal alle Waschmaschinen dieser Welt könnten diesen Schandfleck beseitigen, so Kılıçdaroğlu. Offensichtlich war Sarıgül, der daraufhin die Partei wechselte, dann doch wieder von all der Schande befreit, als es um die Präsidentschaftswahl im Mai 2023 ging. Sarıgül wurde offenbar auch völlig rehabilitiert, um mit seiner 2022 gegründeten Partei TDP in der CHP aufzugehen.
Das und vieles mehr, merkt sich der Wähler, wie im Fall der Vertragskündigung der CHP mit dem oppositionsnahen TV-Sender HALK TV. Offenbar war der TV-Sender im Nachgang der verlorenen Präsidentschaftswahl der Linie des Oppositionschefs nicht gefolgt und übte mitunter heftige Kritik am Wahlausgang wie auch Führungsstil. Diese Woche kam dann die Quittung: Kündigung. Über soziale Medien, wie auch Zeitungen und Fernsehkanäle, wurde das ordentliche Kündigungsschreiben publik gemacht.
Nur um es mal klarzustellen: Bis zuletzt wiegelte man derartige kursierende Gerüchte ab, man hätte sich in einen Kanal eingekauft und bezahle für parteikonforme Berichte. Wieso dann jetzt diese Kehrtwende und diese Offenheit, wenn doch daran nichts Ungewöhnliches ist? Will man etwa den Wählern zu verstehen geben, dass die HALK TV nicht mehr sehenswert ist und weggezappt gehört?
Und dann die Abwahl vieler CHP-Parteivorsitzender in den Provinzen auf Anordnung des Oppositionschefs, weil sie „Veränderung“ gefordert hatten. Das Einzige, was sich veränderte war, dass sie ihre Posten loswurden, bis auf Ekrem İmamoğlu, dem Oberbürgermeister von Istanbul. Offensichtlich soll der „Sohn“ bis zur Kommunalwahl das Boot in der bevölkerungsreichsten Provinzhauptstadt schaukeln. Und das tut er mit zunehmender Zeit so gut, dass das Boot sogar kurz davorsteht, zu kentern. Denn, ausgerechnet İmamoğlu will um Biegen und Brechen eine „Veränderung“, um den Thron selbst zu besteigen und führt sich dabei auf wie ein ungelernter Matrose, der bei Sturm die Takelage falsch bedient.
Zuletzt machte Ekrem İmamoğlu in Zusammenhang mit Kemal Kılıçdaroğlu von sich reden, als er zusammen mit Parteigrößen wie Bülent Tezcan, Tekin Bingöl, Muharrem Erkek, Özgür Özel, Onursal Adıgüzel, Engin Altay oder Gökhan Günaydın eine ZOOM Online-Konferenz abhielt und Mitschnitte davon in die Öffentlichkeit gelangten; ohne das Wissen der Partei selbst. Selbstverständlich stieß das dem Oppositionschef sauer auf. Er und sein Parteisprecher Faik Öztrak sprachen von einer unanständigen, unethischen Handlung, womit die Kritik ziemlich auffällig flach ausfiel. İmamoğlu entgegnete, man habe nichts Heimliches besprochen, sondern, was könnte es sonst sein? „Veränderung“!
Dabei ist „Veränderung“ das Schlagwort! Was sich nicht verändert hat ist, dass die CHP seit mehr als 21 Jahren keine Parlamentswahl für sich entscheiden konnte. Weder mit noch ohne weitere Oppositionsparteien. Man dümpelte stets zwischen 22 und 48 Prozent. Und, es änderte sich auch nichts an der Wahlkampfpolitik! Stets reagierte man sich an der Regierungspartei bzw. Regierungskoalition ab. Wie schlimm es doch sei und wie schlimm es noch sein werde, wenn die amtierende Regierung bzw. Regierungskoalition an der Macht bleiben werde. 22 Jahre Schwarzmalerei haben sich in den Seelen der Wähler eingebrannt; dass ist das, was Kemal Kılıçdaroğlu während seiner Amtszeit als Oppositionschef verändern konnte. Das rächt sich nun!
Wenn bei jedem Wahlkampf die Islamisierung heraufbeschworen wird, während das Badeanzug immer mehr dem Bikini weicht, dann kann man diesem nichts mehr abgewinnen. Wenn bei jedem Wahlkampf der Entwicklungsfortschritt in der Automobilindustrie, Rüstungsindustrie oder Schwerindustrie kleingeredet oder gar die Existenz dessen in Abrede gestellt wird, dann schaut man als Wähler noch genauer hin und wird ernüchternd feststellen, dass dem doch nicht so ist. Und wenn man Terror oder Putschversuch anerkennt, aber nicht beim Namen nennen will und tunlichst vermeidet, darüber zu debattieren, dann verliert man nicht nur die unentschlossenen Wähler, sondern auch die eigenen Lager.
Diese Lager üben nun intern wie extern heftige Kritik am Führungsstil von Kemal Kılıçdaroğlu. Der steht zunehmend unter Druck und will das schaukelnde Boot in ruhige Gewässer lenken, in dem er die eine oder andere Entscheidung revidiert; darunter die Wiederernennung der entlassenen Provinz-Parteivorsitzenden oder den Willen zu bekunden, Veränderungen vorzunehmen. Seit Mai kann sich aber noch keiner so recht ausmalen, was man darunter verstehen kann, denn es gibt keine konkreten Angaben darüber, was das sein könnte.
Was jedoch stand jetzt bereits beschlossene Sache ist, dass der neu ernannte Medienverantwortliche der Partei, Eren Erdem, eine neue Medien-Richtlinie veröffentlichte, die sich wie ein Maulkorb für Parteimitglieder liest. Das heißt, ohne das Einverständnis der CHP-Parteispitze, kann sich kein Parteimitglied, ob Abgeordneter oder Kommunalpolitiker, in TV, Radio, Zeitung und sozialen Medien frei äußern, wenn es die Interessen der Partei verletzt. Diese Gummi-Richtlinie folgt dem Parteiausschlussverfahren gegen den Bürgermeister von Bolu, Tanju Özkan, der nach der Wahlniederlage frei und unmissverständlich den Abgang von Kemal Kılıçdaroğlu gefordert hatte. Nun ist Özkan kein CHP-Mitglied mehr.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.