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Aserbaidschan
Yusif Vəzir Çəmənzəminli: ein aserbaidschanisches Schicksal

Aserbaidschan entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der türkisch-islamischen Welt zu einem wichtigen Schauplatz der Modernisierung. Doch die historischen Umstände führten immer wieder zu tragischen Brüchen. Das Leben Yusif Vəzir Çəmənzəminlis (Jussif Wäsir Tschämänsäminli) erlaubt es, diesen Prozess hautnah mitzuverfolgen.

Yusif Vəzir Çəmənzəminli * 12. September 1887 in Şuşa, Aserbaidschan; † 1943 in Suchobeswodnaja, Oblast Gorki, Russische SFSR) war ein aserbaidschanischer Schriftsteller und Staatsmann. (Foto: Wikimedia)
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Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß

Aserbaidschan entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der türkisch-islamischen Welt zu einem wichtigen Schauplatz der Modernisierung. Doch die historischen Umstände führten immer wieder zu tragischen Brüchen. Das Leben Yusif Vəzir Çəmənzəminlis (Jussif Wäsir Tschämänsäminli) erlaubt es, diesen Prozess hautnah mitzuverfolgen.

Ein Mann aus Schuscha

Yusif Vəzir Çəmənzəminli kam 1887 in Karabachs Kulturmetropole Schuscha zur Welt. Dort begann seine Schulzeit, die er später in Baku beendete. Die Stadt am Kaspischen Meer war damals bereits zum führenden Kulturzentrum Aserbaidschans aufgestiegen, unter anderem aufgrund des Ölbooms.

Eine Phase des Aufbruchs

Çəmənzəminli kam in einer Zeit nach Baku, die vom Umbruch in die Moderne geprägt war. Das einschneidendste Ereignis dieser Zeit war die erste russische Revolution (1905). Sie bescherte dem Russischen Reich eine beispiellose Phase der Öffnung.

Auch wenn die danach im autokratischen System vorgenommenen politischen Lockerungen bald wieder zurückgenommen wurden und eine Welle der Verfolgung und Unterdrückung einsetzte, wurde weiterhin intensiv an der geistig-intellektuellen Neuorientierung weitergearbeitet, zum Teil im Untergrund. Dies galt insbesondere auch für die nichtslawischen Völker Russlands, zu denen die Aserbaidschaner gehörten. Ihr Land war erst im frühen 19. Jahrhundert von Russland unterworfen worden.

All diese Entwicklungen wirkten sich direkt auf den Lebensweg Çəmənzəminlis aus. Auf der einen Seite schlug er den Weg eines staatstreuen Bürgers ein: Nach Ende der Schulzeit absolvierte er ein Jurastudium an der Universität Kiew, das er 1915 abschloss. Danach war er in der Justizverwaltung des Zarenreichs tätig, unter anderem in Rivne und Saratov. Doch zugleich erfassten ihn die gesellschaftlichen und geistigen Umwälzungen der Zeit.

Parallel zu seiner Juristenlaufbahn entfaltete er sowohl auf literarisch-publizistischem als auch auf politischem Gebiet eine überaus rege Aktivität. Dabei waren beide Bereiche, Politik und Schreiben, meistens stark aufeinander bezogen. So behandelte er in vielen seiner Beiträge Themen wie politische Freiheit oder den Entwicklungsstand des Pressewesens in Russland.

Çəmənzəminlis politisches Engagement während der ersten drei Jahre des Ersten Weltkriegs zeigte sich unter anderem in seiner Rolle als führenden Vertreter der Diaspora-Aserbaidschaner an der Kiewer Universität. Dort organisierte er auch aserbaidschanische Sprachkurse.

Müsavat-Politiker und Staatstheoretiker

Durch die dramatischen Ereignisse des Jahres 1917 wurde Çəmənzəminli noch viel stärker in das politische Geschehen hineingezogen. Um seine Entwicklung in dieser Zeit zu verstehen, muss man wissen, dass die Aserbaidschaner in der Zeit vor der Oktoberrevolution zwei wichtige politischen Organisationen hatten.

Das war zum einen die inhaltlich den Bolschewiki nahestehende Hümmәt-Partei, und zum anderen die Müsavat-Organisation, der sich auch Çəmənzəminli anschloss. Dem Programm nach war Müsavat – der Name bedeutet so viel wie „Gleichheit“ – eine gemäßigte islamische Partei. Um 1911 gegründet, bliebt sie bis zur Februarrevolution (Märzrevolution nach unserem heutigen Kalender) von 1917 illegal und wurde danach als Partei zugelassen. Die Legalisierung von Müsavat verschaffte Çəmənzəminli die Möglichkeit, Leiter von deren Kiewer Außenstelle zu werden. Gleichzeitig gründete er noch 1917 in der ukrainischen Hauptstadt ein sogenanntes „Nationalkomitee“.

Ebenfalls in diesem Jahr erschien in Baku sein Buch „Die Autonomie Aserbaidschans“. Das Werk wird als ein Meilenstein auf dem Weg zur am 28. Mai 1918 ausgerufenen Demokratischen Republik Aserbaidschan (DAR) angesehen, der frühesten Republik der islamischen Welt überhaupt. In seinem Buch vertritt Çəmənzəminli eine gemäßigte Position zwischen Befürwortern einer Reform des zaristischen politischen Systems ohne Autonomieforderungen für muslimische Minderheiten und denjenigen, die eine volle Unabhängigkeit der muslimischen Völker verlangten.

Wenn man in der heutigen Situation auf die teils unabhängigen (wie Aserbaidschaner, Usbeken, Türkmenen, Kasachen, Kirgisen), teils unter – allerdings nur auf den Papier stehender – Autonomie lebenden (etwa Baschkiren und Tataren) und teils auch jeglicher Form der Selbstkontrolle beraubten (etwa die Uiguren) islamischen Turkvölker blickt, ist dem auch heute noch eine gewisse Aktualität nicht abzusprechen.

Vorübergehende Rückkehr nach Aserbaidschan

Während rings umher der russische Bürgerkrieg tobte, verließ Çəmənzəminli Kiew und ging auf die Halbinsel Krim. Das Ziel war, die Nationalbewegung der Krimtataren zu unterstützen, die zwischen den „Roten“ und den „Weißen“ aufgerieben zu werden drohten.

Mitten in seiner neuen Tätigkeit erreichte ihn im Januar 1919 die Ernennung zum Botschafter der Demokratischen Republik Aserbaidschan in Kiew. Das war der Beginn einer sehr unsteten Phase im seinem Leben. Weil sich die ukrainische Metropole bereits seit Anfang 1918 in den Händen der Bolschewiki befand, konnte er der Berufung allerdings nicht folgen. Stattdessen reiste er über Konstantinopel nach Baku. Von dort kehrte er nach nur einem Monat als Botschafter der DAR im Osmanischen Reich wieder nach Konstantinopel zurück.

Die Einschnitt von 1920

Aber auch in seiner neuen Funktion in Konstantinopel konnte sich Çəmənzəminli kaum der Ruhe erfreuen. Er musste miterleben, wie die Bolschewiki im April 1920 die Demokratische Republik Aserbaidschan überfielen und zerstörten. Zwar konnte er danach noch für acht Monate im Namen der aserbaidschanischen Exilregierung auf seinem Posten bleiben. Doch die aserbaidschanische Demokratie und damit auch seine Anstellung waren vorläufig am Ende.

Wie für viele andere Aserbaidschaner führte die Errichtung der sowjetischen Herrschaft auch für Çəmənzəminli zu einem tiefen biographischen Bruch. In den folgenden Jahren verwendete er deutlich weniger Energie auf den politischen und öffentlichkeitswirksamen Bereich und trieb stattdessen seine theoretischen, wissenschaftlichen und literarischen Interessen voran. Das Hauptthema blieb jedoch dasselbe: Aserbaidschans Geschichte und Kultur.

Schwierige Jahre im Exil

Çəmənzəminlis Aufenthalt in Konstantinopel wurde noch zusätzlich dadurch verkompliziert, dass er in ernsten Streit mit verschiedenen Vertretern der aserbaidschanischen Exilgemeinde geriet, namentlich mit einigen früheren Müsavat-Mitgliedern. Er entschied sich schließlich zur Ausreise und siedelte in die Nähe von Paris über.

Dass er dort seinen Lebensunterhalt zeitweise als Arbeiter in einer Automobilfabrik bestreiten musste, zeigt, wie schwierig seine Lebensumstände damals gewesen sein müssen. Auch in dieser Situation setzte er jedoch seine der Geschichte und Kultur Aserbaidschans gewidmeten Tätigkeiten fort.

Ein typisch sowjetisches Leben

Offensichtlich hielt Çəmənzəminli es nicht auf Dauer im Exil aus. Ob Heimweh, die Schwierigkeiten des Exilantenlebens oder andere Gründe für seinen Sinneswandel ausschlaggebend waren, ist unklar. Möglicherweise hatte seine Entscheidung etwas damit zu tun, dass das Land gerade eine etwa drei Jahre währende Phase der sogenannten „Einwurzelung“ (russisch: korenizacija) hinter sich hatte.

Mit diesem Begriff wird der Versuch der sowjetischen Machthaber umschrieben, ihre Herrschaft durch Kooperation mit lokalen Eliten stärker in den nichtrussischen Gesellschaften der Union zu verankern. Vor diesem Hintergrund sahen auch Menschen, die wie Çəmənzəminli in der Vergangenheit das genaue Gegenteil der marxistisch-leninistischen und sowjetischen Glaubenslehre vertreten hatten, für sich eine Chance, im sowjetischen Aserbaidschan einigermaßen über die Runden zu kommen. Fest steht, dass er am 3. April 1926 in die aserbaidschanische Sowjetrepublik zurückkehrte.

In literarischer Hinsicht gehören die folgenden Jahre zu den produktivsten in Çəmənzəminlis Leben. Doch diese relativ unbeschwerte Phase endete wie für Millionen anderer sowjetischer Intellektueller im Jahr 1937. Im Juni wurde er als „Volksfeind“ aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ein Jahr später, am 9. August 1938, erließ der sowjetische Geheimdienst einen Haftbefehl gegen ihn.

Çəmənzəminli entzog sich der Vollstreckung des Haftbefehls zunächst durch Flucht nach Ürgentsch (Usbekistan). Dort lebte und arbeitete er bis 1940 unerkannt. Doch im Januar 1940 wurde der Haftbefehl vollstreckt und man verbannte ihn in die Provinz Gorkij (heute Nižnyj Novgorod). Dort starb er am 3. Januar 1943.

Çəmənzəminli nach seiner Verhaftung, 1940.

Das Leben Çəmənzəminlis illustriert in archetypischer Weise, wie aserbaidschanische Intellektuelle zunächst im Zarenreich und dann in der Sowjetzeit vorhandene Spielräume nutzten, um politische Ideen und ihre Kultur zu entfalten. Es zeigt aber auch die Grenzen dieser Möglichkeiten angesichts der autokratischen und später totalitaristischen imperialistischen Struktur Russlands auf.


Dr. Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe und seit 2019 Privatdozent an der FU Gießen. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417). Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.


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