Start Panorama Gesellschaft NEX24-Interview Waldauer: „Europa kann sich von der Türkei einiges abschauen“

NEX24-Interview
Waldauer: „Europa kann sich von der Türkei einiges abschauen“

In der „Anhalt Gothic Novel“ von Till C. Waldauer geht eine multikulturelle Provinzgesellschaft mysteriösen Vermisstenfällen auf den Grund. NEX24 sprach mit dem Autor.

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Die Gothic Novel ist nicht unbedingt sehr verbreitet in der deutschen Literatur. Selbst in der Zeit der Romantik, wo sie ihre Blüte erlebte, war sie eher im englischsprachigen Raum populär. In den USA spielten dann Formen wie Southern Gothic noch länger eine Rolle. Zu den Zutaten einer solchen Geschichte zählen Schlösser, Sümpfe, Wälder, verwilderte Gärten, unheimliche Menschen, unerklärliche Erscheinungen, Romanzen und viele menschliche Abgründe.

Auch Sachsen-Anhalt hat viel davon, und jetzt auch eine deutschsprachige Schauergeschichte, die im Salzlandkreis und zwischen den Städten Bernburg und Könnern spielt. Allerdings ist die Story dazu eingebettet in eine düstere Zukunftsvision, die nicht so kommen muss, aber so kommen kann.

Düstere Stimmung über dem Waldauer Anger im Bernburger Stadtteil Waldau. (Foto: Textbüro Freital)

Europas Gesellschaften brechen auseinander, in dysfunktionalen Staaten machen sich autoritäre Tendenzen breit, teilweise gibt es bürgerkriegsähnliche Ausschreitungen (bei Netflix greift etwa „Athena“ das auf).

Anhalt Gothic Novel“ – Multikulti-Grusel aus der Provinz

In Till C. Waldauers „Anhalt Gothic Novel“ hat sich die EU in ein totalitäres Monstrum namens EFR verwandelt, das seine Bürger ausblutet und Einwanderern die Kinder raubt. Unter dem Schutz der USA (wo ein Sohn von Elon Musk Präsident ist) haben sich Länder abgespalten zu einer „Mitropa-Konföderation“ (MiK), die wohl irgendetwas zwischen Viségrad-Gruppe und Intermarium darstellen soll. Viele EFR-Bürger fliehen dorthin. Einzelne Bundesländer wie Sachsen und Sachsen-Anhalt haben auch den Abflug gemacht und sich der MiK angeschlossen. Weil alles schnell gehen musste und die schon da war, hat die einfach Verfassung und Institutionen der USA kopiert.

Im „Salzland County“ geht nun eine amerikanische Geheimdienstzelle (CIC Field Office) vor Ort dem Verschwinden mehrerer Minderjähriger aus unterschiedlichen Communitys nach. Eigentlich soll sie nur klären, ob es wie schon einmal zuvor Auftragstäter aus EFR sind, die dahinterstecken. Tatsächlich wird das kleine Team aber immer mehr in Abgründe hineingezogen, die sich um die Vermisstenfälle auftun. Im Salzland selbst steigt derweil die allgemeine Unsicherheit und rechtsextreme Demagogen mit Verbindungen ins Rotlichtmilieu nutzen die Vermisstenfälle, um die Bürger gegeneinander aufzuhetzen.

Die Ami-Zelle will sich hingegen alle Seiten der Story anhören und baut auf die Expertise von Menschen aus den Communitys und Stützen der örtlichen Gesellschaft. Eine junge Powerfrau aus der Roma-Community stößt im Laufe der Geschichte zum Team dazu und sorgt für neue Impulse. Auch türkische Einwanderer erweisen sich als Stützen der CIC-Office. Am Ende kommen die Beteiligten einem grausigen Geheimnis auf die Spur – und (Vorsicht SPOILER) im Zusammenwirken schafft es die Provinzgesellschaft insgesamt, einen brutalen Serienmörder zu stoppen.

Die „Anhalt Gothic Novel“ ist eine sicher nicht unkomplizierte Geschichte, auf die man sich einlassen muss. Das liegt auch daran, dass die Gedankengänge dahinter sehr unkonventionell sind. Für den Mainstream wohl auch zu avantgardistisch.

Die Geschichte ist aber flott erzählt und voll von – oft ironischen – Anspielungen. Auch die Inspirationen, die man herauslesen kann, sind sehr vielfältig. Einer der Protagonisten hat seine Kinder allesamt nach Figuren aus E. T. A. Hoffmanns „Goldenem Topf“ benannt, und eine davon, Serpentina, wird zur großen Liebe von CIC-Nachwuchshoffnung Erich Bruckner. Dieser wird jedoch gleich unsanft von einem spießigen Nachbarn empfangen, der gewisse Ähnlichkeiten mit der „Alten“ aus der genannten Erzählung aufweist.

Die Rote Kirche Waldau in Bernburg in einer unheilschwangeren Morgenstimmung. (Foto: Textbüro Freital)

Man meint jedoch auch Einflüsse aus US-Serien und Filmen der vergangenen Jahrzehnte wahrzunehmen. Die oft düstere Grundstimmung und abgründige Phänomene innerhalb der Dorfcommunity haben etwas von der ersten „True Detective“-Staffel. Aber auch, wer mit der 1980er Miniserie „Die Polizei-Chiefs von Delano“ vertraut ist, erahnt, dass diese zu den Favoriten von Autor Waldauer gehören dürfte. Die Art und Weise, wie Romni-Wirbelwind Kyra Kováč am Ende ihre Mitstreiter auf die richtige Spur bringt, könnte zudem glatt einer Folge von „X-Factor – Das Unfassbare“ entstammen.

Eine leichte Lektüre ist die „Anhalt Gothic Novel“ nicht, aber lohnend. Sie ist kurzweilig, arbeitet viel mit Ironie und Situationskomik, und beim Lesen stellt sich sogar ein gewisser Bildungseffekt ein. So weiß man zum Schluss um einiges mehr über kulturelle Bräuche der Roma, ebenso wie über die jüdische Sicht auf das Übernatürliche. Und wer Bernburg oder den Salzlandkreis noch nicht bereist hat, wird dem Gedanken, dies zu tun, zumindest nicht abgeneigt sein.

NEX24 sprach mit dem Autor der „Anhalt Gothic Novel“, Till C. Waldauer.

Herr Waldauer, halten Sie ein Szenario, wie Sie es Ihrer Geschichte vorausschicken, in Zeiten wie diesen wirklich für hilfreich? Abgesehen davon, dass es manche für weit hergeholt halten könnten.

Zuallererst möchte ich deutlich machen: Die „Anhalt Gothic Novel“ ist nichts Politisches. Sie ist eine Liebesgeschichte mit Elementen der Romantik in ihren lichten und dunklen Spielarten… und eine Hommage an diesen wunderbaren Flecken Erde, den ich über acht Jahre meine Heimat nennen durfte. In dieser Zeit durfte ich auch die verschlungenen Pfade, verlassenen Orte, mysteriösen oder verborgenen Ecken und Nebenstraßen des Salzlandes kennenlernen. Diese waren so inspirierend, dass mir dazu eben Geschichten einfielen.

Natürlich musste ich das Setting irgendwie wählen, als mir erstmals die Idee zu der Gothic Novel kam. Etwas in der Zukunft erschien mir dabei als angemessen, und die politische und kulturelle Großwetterlage verhieß damals schon nicht immer Gutes. Das war wenige Jahre vor dem Erscheinen des Buches „Die Welt im Jahr 2035: Gesehen von der CIA und dem National Intelligence Council“. Dort war von vielen unschönen Entwicklungen die Rede, aber auch – was viele nicht bemerkt haben – von Chancen. Und in meinem Setting hat, wie es wohl auch kommen wird, falsche, ideologische Politik vieles zerstört, aber Entwicklungen wie der demografische Wandel bieten auch neue Möglichkeiten.

Vieles in der Geschichte ist übrigens nicht oder zumindest nicht vollständig erfunden. Ein CIC Field Office gab es nach 1945 beispielsweise auch in meiner österreichischen Geburtsheimat. Dieses beobachtete kommunistische Umtriebe und arbeitete vor allem mit Geflüchteten aus Ungarn zusammen. Die Zellen gab’s in mehreren Staaten, manchmal spielten sie rühmliche Rollen, manchmal weniger. Einige Akteure tauchten später in Gladio-Zusammenhängen wieder auf. Sollte es wirklich zu Zusammenbrüchen in Europa kommen, würde es solche Strukturen wahrscheinlich wieder geben. Von daher ist die Idee nicht so unstimmig.

Aber auch einige wirklich grotesk anmutende Begebenheiten, die Eingang in die Story gefunden hatten, habe ich Ende der 2000er entweder selbst ähnlich erlebt oder aus sicherer Quelle zugetragen bekommen: von brennenden Wohnwägen auf Feldwegen, in denen Prostitution betrieben wurde, über einen Hochstapler aus Dessau, der sich als Headhunter ausgab, bis hin zu einem Nazi-Club, der sich als vermeintlicher Kulturverein öffentliche Fördergelder erschleichen wollte. Der war zwar nicht im Salzland, aber ihn in meine Novel einzubauen, war eben künstlerische Freiheit. Ebenso wie den pingeligen Nachbarn Götzenberger, der einem früheren Familienmitglied nachempfunden ist.

Auffällig ist ja schon zu Beginn der Story, dass das europäische Projekt überhaupt nicht gut wegkommt… Aber sind es denn nicht hauptsächlich die Europäer, die heute noch unbeirrbar für Werte einstehen?

Nun, mein Eindruck ist: Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen sind in einem Teufelskreis aus Schuldkomplexen und Größenwahn gefangen, gleichzeitig hängen alle relevanten Kräfte in einem Mindset fest, das schon vor 200 bis 300 Jahren zur Zeit seiner Entstehung toxisch war.

Gleichzeitig greift irgendetwas zwischen manisch-depressiver Persönlichkeitsstörung und kollektivem ODD-Syndrom [Oppositionelle Verhaltensstörung; d. Red.] um sich. Man sucht den Bruch mit allem, was in irgendeiner Weise als traditionell, religiös oder irgendwie sonst zeitlos anmutet, weil man einen dogmatischen, linearen Fortschrittsmythos offenbar als Chance sieht, auch aus der eigenen blutigen und totalitären Geschichte aussteigen zu können.

Dazu kommt eine krankhafte Sucht nach Selbstvergewisserung – deshalb auch dieses 24/7-Virtue-Signalling mit Regenbogenfahnen oder was halt gerade angesagt ist – und Selbsterlösung. Da hat man die deutschen Twitter-Generäle, die sich danach sehnen, nach zwei verlorenen Weltkriegen, die man angezettelt hat, jetzt endlich einen auf der vermeintlich „richtigen“ Seite zu führen. Andere wollen dann nicht nur das eigene Gewissen, sondern gleich die ganze Welt miterlösen. Etwa diese Klimakleber-Sekte, die glaubt, vom Schicksal ausersehen zu sein, um den gesamten Planeten zu retten, und deshalb über jedem Gesetz zu stehen.

Es wäre sicher spekulativ, diesen blindwütigen Drang zur Weltbekehrung und Welterlösung schon bis zu Karl dem Großen oder den Kreuzzügen zurückzuverfolgen, obwohl es sicher Argumente dafür geben wird, das zu tun. Aber spätestens mit Luther, Rousseau und Kant hat sich über ganz Europa ein fanatischer und jakobinischer Rigorismus ausgebreitet, den nach dem Desaster der Französischen Revolution Malthus, Marx und Gobineau noch weiter auf die Spitze getrieben hatten – die Stichwortgeber für die späteren totalitären Menschheitskatastrophen. Deren gefährlicher Irrsinn ist aber immer noch die faktische Grundlage für die heutigen politischen Kräfte. Auf der Linken Marx allein oder Marx und Malthus zusammen, auf der Rechten Malthus und Gobineau.

Und heute ist man im Grunde immer noch tief im Inneren davon überzeugt, dass es ohne Europa keine Zivilisation, keine Moral, keine Werte, keine Vorstellungen von Menschenwürde, keinen wirtschaftlichen und keinen technologischen Fortschritt in der Welt gäbe. Als ob die anderen alle mehr oder minder auf der Wurstbrühe dahergeschwommen wären.

Die „Bürde des weißen Mannes“ 2.0 also?

Im Grunde läuft es darauf hinaus. Man lernt nicht aus Fehlern, weil man eigene nicht als solche erkennt. Stattdessen hält man weiterhin andere für zu dumm, zu rückständig, zu ungebildet, was auch immer, um die wahren Probleme der Zeit zu erkennen und die richtigen Antworten auf die richtigen Fragen zu geben. Das gilt ja sogar für US-Amerikaner, sobald sie nicht in der „gewünschten“ Weise gewählt haben. Und teilweise hält man die eigenen Landsleute oder bestimmte EU-Mitgliedstaaten dazu nicht für fähig und deshalb für maßregelungsbedürftig.

Diese Denkweise ist im Grunde unfähig, andere als gleichwertig oder als Träger berechtigter Interessen anzusehen. Auf der extremen Rechten…

die im Buch ja böse persifliert wird …

Ja, das musste auch mal sein, zumal die Darstellungen ja nicht einmal völlig aus der Luft gegriffen sind. Dort ist der Überlegenheitsdünkel halt für alle sichtbar und man versucht gar nicht erst, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Da rufen AfD-Anhänger dann eben nach einer Ein-Kind-Politik für Afrika, weil sie die überalternde „weiße Rasse“ vor dunkelhäutigen Kindern schützen wollen, die vielleicht irgendwann einmal hier einwandern könnten.

In „fortschrittlichen“ Kreisen ist es deutlich subtiler, da geht’s dann eher um Paternalisierung. Da heißt es dann, Menschen sollten generell „kinderfrei“ bleiben, weil das sonst den CO2-Abdruck erhöhe. Oder Jugendämter lassen vor allem in Einwanderermilieus oft schon vage Verdächtigungen ausreichen, um Kinder aus ihren Familien zu nehmen. Türkiye hatte diesbezüglich ja schon mehrfach seine Botschafter eingeschaltet. Als ob es nicht ausreichen würde, ihnen so schon durch die allgegenwärtige politische Indoktrination ihre Kindheit zu stehlen. Aber da geht’s halt um das vermeintlich Gute oder gut Gemeinte und das Emanzipatorische – und es ist dann nur zu deren Bestem.

Am Ende des Tages ist die „Völkerschau“-Mentalität links und rechts gleichermaßen vorhanden. Und dieses neokoloniale Denken zeigt sich nicht nur, wenn es wie jüngst um irgendwelche Binden bei der Fußball-WM in Katar geht, wo man die sexuelle Freiheit bis aufs Messer verteidigt, wahrscheinlich, weil es bald die einzige ist, die man noch hat. Die ideologische Politik der Europäer gefährdet nicht nur hier Freiheit und Wohlstand. Sie geht im globalen Süden über Leichen.

Man will durch völlig unrealistische, planwirtschaftliche Ansätze das Weltklima retten, vernichtet dadurch den eigenen Wohlstand – aber verhindert vor allem, dass in Afrika, Asien oder Lateinamerika mehr davon entsteht. Denn dort hat man noch weniger Reserven, um die Folgekosten missglückter Experimente zu stemmen. Bei uns heißt das, dass in einer Stadt mal der Strom ausfällt und horrende Energiepreise den Wohlstand ruinieren. Luisa Neubauer lebt trotzdem noch im Luxus und kann um die Welt jetten. Dort heißt es aber, dass Menschen verhungern oder keine medizinische Behandlung bekommen.

Der Rest der Welt kann allerdings nichts für europäische Befindlichkeiten. Die Europäer glauben jedoch in ihrem Narzissmus, die Welt würde sich nur um diese drehen. Dem ist aber nicht so. Die Zeiten, in denen Europa vier Fünftel des Erdballs beherrscht hatte, sind vorbei und kommen nie wieder. Im Übrigen sind die „europäischen Werte“, vor allem jene des säkularisierten Protestantismus, laut Ingelhart-Survey weltweit gesehen gar nicht der Maßstab, den alle für erstrebenswert halten, sondern eher sogar der Fringe.

In Ihrem Buch spielt multikulturelles Zusammenleben eine tragende Rolle. Bisher ist der Osten Deutschlands ja nicht gerade dafür bekannt, für so etwas offen zu sein.

Ich verwende eigentlich das Wort „plurikulturell“ lieber als „multikulturell“. Zum einen, weil „Multikulturalität“ ein sinnentleerter Kampfbegriff geworden ist, zum anderen, weil „plurikulturell“ besser trifft, worauf sich ein künftiges Zusammenleben stützen sollte. Die demografische Entwicklung macht vor keinem Halt, und auch wenn ich es mir anders wünschen würde, wird die alteingesessene europäische Mehrheitsgesellschaft nicht mehr in der Masse zu einem ausreichend gesunden Verhältnis zu Ehe, Familie und Kindern zurückfinden, um ihr gegenzusteuern.

Nicht einmal, wenn jährlich so viele Menschen zuwandern würden, wie es Wirtschaftsverbände als wünschenswert erachten, würde sich der Trend als solcher umkehren. Und je mehr die Mehrheit auf Gleichmacherei und Assimilation beharrt, und das, ohne selbst Anlass dazu zu geben, umso unattraktiver wird Deutschland für potenzielle Einwanderer. Vor allem für solche, die sich ihr Zielland aussuchen können.

Es haben aber jetzt schon etwa 26 Prozent der Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund, und in 30, 40 Jahren werden es noch mehr sein. Plurikulturalität heißt in dem Kontext, dass man sich im Interesse aller Beteiligten an den Gedanken gewöhnen sollte, dass mehrere unterschiedliche Kulturen in Deutschland und in Europa leben werden. Inwieweit eine wechselseitige Durchdringung, Beeinflussung oder ein Nebeneinander stattfinden wird, bleibt dabei eben offen. Es wird sich weisen, und man sollte das auch den Menschen selbst überlassen. Es lässt sich eben weder eine Assimilation an irgendeine ideologisch konstruierte „Leitkultur“ erzwingen noch eine oberflächliche, herunterdestillierte Globalkultur, in der alle auf Kosten ihrer Eigenheiten aufgehen. Das ist aber auch gut so.

Entscheidend ist, dass wir die Potenziale nutzen, die aus dieser Pluralität herrühren. Und diese Pluralität ist, wenn das gelingt, eine Stärke. Dazu gehört es aber auch, falsche Vorstellungen, Erwartungen oder Klischees über Bord zu werfen – und anderen zuzuhören und ihnen unvoreingenommen zu begegnen. In einer Zeit, in der der Begriff „Versteher“ als Schimpfwort benutzt wird, sollte man sich erst recht bemühen, einer zu werden.

In meiner Story zeigt sich eine Gesellschaft stark, weil sie Unterschiedlichkeiten als Normalität auffasst und deshalb einen verbindenden gesunden Menschenverstand an die Stelle von Ressentiments setzt. Und in so einer Gesellschaft muss sich dann auch keiner verbiegen oder verändern, nur weil andere das von ihm erwarten.

An einer Stelle im Buch ist auch die Rede von Ibn Khaldun und vom Millet-System der Osmanen. Gibt es aus Ihrer Sicht etwas in der osmanischen oder türkischen Geschichte oder Gegenwart, womit sich auch Europäer intensiv befassen sollten? Zum Beispiel bezüglich Pluralität?

Türkiye ist jedenfalls ein interessantes Modell… das Land ist einen Weg gegangen, von dem sich Europa einiges abschauen könnte. Vor allem, weil Türkiye zu Beginn selbst so viel von Europa übernommen hatte, oft fast zwanghaft, und dann merkte, dass das doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ich sage ja nicht, dass es in Türkiye keine Probleme oder Verbesserungspotenziale gäbe. Die gibt es überall. Unterm Strich stehen das Land, die türkische Wirtschaft, die Gesellschaft aber definitiv besser da als noch vor 20 oder 30 Jahren.

Türkiye ist vor allem ein gutes Beispiel für ein postsäkulares Gemeinwesen, das es geschafft hat, ein erstarrtes, elitäres, paternalistisches System zu überwinden, wie es in Europa immer wieder entstanden war. Ähnlich wie in vielen europäischen Ländern heute hatte dieses ja ethnische, religiöse und kulturelle Pluralität als Bedrohung empfunden.

Heute hingegen akzeptiert es selbst der Vorsitzende der CHP, dass man Frauen nicht ihres Kopftuchs wegen benachteiligen darf. Der öffentlich-rechtliche Sender TRT sendet auch in Minderheitensprachen, Kirchen wurden restauriert, das alevitische Gemeindeleben erfährt eine Aufwertung – das alles wäre noch Ende der 1980er nicht denkbar gewesen. Und an das Verbot von Arabesk-Musik hat sich sowieso nie einer gehalten.

Auch außenpolitisch ist Türkiye eher ein Bannerträger des gesunden Menschenverstandes und des Realismus. Anders als die EU gießt man im Ukraine-Konflikt nicht noch Öl ins Feuer und setzt auf Konfrontation, sondern Türkiye nützt alle Möglichkeiten, um Leid zu minimieren und Diplomatie zu stärken.

Vom Grundkonzept her sehe ich aber, auch bei allem, was dort vielleicht nicht optimal läuft, die USA als das Modell, in dem sich Freiheit, Wohlstand und ein positives Verständnis von Pluralität bei gleichzeitiger intakter Selbstwahrnehmung am besten und am stabilsten behauptet haben. Eine freie Republik und damit anders als so oft in Europa eine Demokratie, die nicht darin besteht, dass irgendein Mob Mehrheiten herbeischreit oder Medien einen Konsens fabrizieren. So was brauchen wir auch: mehr freie Bürger und weniger Konformisten.

Till C. Waldauer, Anhalt Gothic Novel. Books on Demand 2022, ISBN-13: 9783756842599.
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