Ein Gastbeitrag von Kemal Bölge
Während des Zweiten Weltkriegs auf der Halbinsel Krim: Die als streng geheim eingestufte Aktion begann am 18. Mai 1944, um drei Uhr nachts. Zu diesem Zeitpunkt kämpften die wehrfähigen Männer in den Reihen der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland.
Übrig blieben die Frauen, Kinder und Alte. Der sowjetische Staatschef Stalin unterschrieb eine Verfügung, die das Schicksal der über 200.000 turksprachigen Krimtataren besiegelte. Befehlstechnisch unterstanden die Einheiten dem sowjetischen Innenministerium und dem Ministerium für Staatssicherheit.
Über 30.000 Sicherheitskräfte waren im Einsatz, die es besonders eilig hatten. Die Bevölkerung wurde aus ihrem Schlaf gerissen und innerhalb von 15 Minuten sollten sich alle Einwohner draußen versammeln. Viele konnte nur wenige Habseligkeiten mitnehmen. Diejenigen, die sich weigerten und ihre Heimat nicht verlassen wollten, wurden noch vor Ort erschossen.
Die meisten wurden mit Lastkraftwagen zum Bahnhof gebracht und in Viehwaggons eingepfercht. Nach Einschätzung krimtatarischer Verbände starben etwa 46 Prozent der Verschleppten in den Zügen durch Hunger, Durst und Krankheiten. Moskau deportierte die Krimtataren überwiegend nach Usbekistan, in die anderen zentralasiatischen Republiken und nach Sibirien.
Die sowjetische Führung beschuldigte die Krimtataren der Kollaboration mit Nazi-Deutschland bzw. mit der deutschen Wehrmacht nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion gemeinsame Sache gemacht zu haben. Doch inwiefern trifft diese Behauptung zu? Der 1917 ausgerufene unabhängige krimtatarische Staat war nur von kurzer Dauer, denn die im Oktober an Macht gekommenen Bolschewiki beendeten dieses Experiment.
1921 wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krim ausgerufen und für eine gewisse Zeit galt diese Sowjetrepublik als Beispiel für eine eingeschränkte Autonomie. Krimtatarisch war neben Russisch die offizielle Amtssprache. Die Sprache der Krimtataren wurde gefördert und bestimmte Institutionen gegründet. Den von Stalin ab 1927 befohlenen Säuberungen fielen die führenden Köpfe der Krimtataren zum Opfer. Die zugestandene Autonomie und die Förderung der tatarischen Kultur wurden abgeschafft.
Das gleiche Schicksal ereilte auch andere Turkvölker bzw. deren Sprache. Schätzungen zufolge starben durch den Terror Stalins etwa 150.000 Krimtataren. Mit Beginn der Operation Barbarossa und den Einfall in die Sowjetunion durch die Wehrmacht, empfing ein Teil der Bevölkerung auf der Krim die Deutschen als „Befreier“, aber das sollte als Reaktion auf die russischen Repressalien in politischer und kultureller Hinsicht als auch die Veränderungen der demografischen Strukturen gegenüber den Krimtataren verstanden werden.
Es wäre vermessen zu behaupten, dass die Krimtataren „gemeinsame Sache mit dem Feind“ gemacht haben, so wie es die sowjetische Propaganda öffentlichkeitswirksam verbreitete. Während des Zweiten Weltkriegs dienten Tausende Krimtataren in der Roten Armee als Soldaten und einige wurden für ihre „Loyalität“ und den „aufopferungsvollen Kampf für das Vaterland“ mit militärischen Orden geehrt. Nach einer Volkszählung in der UdSSR lebten auf der Halbinsel Krim 1939 insgesamt 1.123.806 Menschen, davon waren 557.449 Russen, 218.492 Krimtataren und 153.478 Ukrainer.
Ferner lebten noch eine geringe Anzahl an anderen Minderheiten. Mit dem Abkommen von Küçük-Kaynarca (1774) verlor das Osmanische Reich das Khanat Krim, das sich unabhängig erklärte und 1783 vom Russland einverleibt wurde. Mit der Annexion begann die erste Auswanderung der Krimtataren ins Osmanische Reich. Der von 1853 bis 1856 zwischen dem Osmanischen Reich und Russland geführte Krim-Krieg lieferte Moskau einen weiteren Vorwand, um Besitzungen der muslimischen Krimtataren zu beschlagnahmen und aus den Dörfern und Städten zu vertreiben.
Schätzungen zufolge verließen von 1783 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 100.000-400.000 Krimtataren ihre Heimat. Bei den Tataren handelt es sich ethnisch betrachtet um ein turksprachiges Volk, das ursprünglich aus Zentralasien kam. Neben den Krimtataren gibt es auch die Nogaytataren als auch die Kazantataren.
Die jahrzehntelangen Bemühungen der Krimtataren nach einer Rückkehr in ihre alte Heimat trug Früchte. Ab 1987 erlaubte die sowjetische Führung die Heimkehr der Krimtataren in ihre angestammten Siedlungsgebiete. Nach der Ankunft erlebten viele eine Überraschung, denn in ihren früheren Besitzungen wurden russische Familien angesiedelt. Bei einer erneuten Volkszählung im Jahre 1995 waren 67 Prozent Russen, 22 Prozent Ukrainer und etwa 10 Prozent Krimtataren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde auf der Krim, als Teil der Ukraine, 1991 die Autonome Republik Krim ausgerufen. Allerdings wirkten sich die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine auch auf das Leben der Krimtataren aus.
Hinzu kamen noch soziale Probleme: Mängel gab es beim muttersprachlichen Unterricht, bei der Informationsfreiheit der Medien und im kulturellen Bereich. Die Unabhängigkeit der Ukraine und der gewährte Autonomiestatus an die Krimtataren ließen in der russischen Bevölkerung auf der Krim separatistische Forderungen immer lauter werden. Die russischen Separatisten auf der Krim forderten zunächst die Loslösung der Republik Krim von der Ukraine und anschließend die Vereinigung mit Russland.
Unterstützung erfuhr die russische Bevölkerungsgruppe von nationalistischen Kreisen aus der Russischen Föderation. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland wirkte sich auf die Krim dahingehend aus, dass die russische Bevölkerung der Krim für den Anschluss an Russland instrumentalisiert wurde. Bis zur russischen Annexion der Krim 2014, gab es um den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol immer wieder Zwistigkeiten zwischen der Ukraine und Russland, der bis dahin von beiden Ländern als Marinestützpunkt genutzt wurde.
Es existieren unterschiedliche Angaben wie viele Krimtataren aus Zentralasien, vor allem aus Usbekistan, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und welche Anzahl es vorgezogen hat in den zentralasiatischen Republiken zu bleiben. Eine große Diaspora an Tataren lebt im Ausland, die jedoch nicht aus der Krim entstammen. Diese leben vorwiegend in der Türkei, in den USA, Rumänien, Deutschland und Bulgarien. Vor dem abgehaltenen „Volksentscheid“ kam es am 25. Februar 2014 zu Protesten von Befürwortern des Russland-Anschlusses vor dem Krim-Parlament.
Der pro-russische Parlamentspräsident versprach das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Am selben Tag wollten Mitglieder des krimtatarischen Parlaments eine Kundgebung vor dem Parlament veranstalten, bis paramilitärische russische Kräfte das Parlament belagerten. Trotz aller Widerstände und Einschüchterungen beteiligten sich an den Protesten der Krimtataren etwa 7.000 Teilnehmer und forderten eine Beibehaltung der Krim auf ukrainischem Territorium.
Es kam zu Ausschreitungen mit russischen Gegendemonstranten. Im Zuge des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine annektierte Moskau die Halbinsel und ließ anschließend ein Referendum über den Status durchführen. Nach offizieller russischer Mitteilung hatten sich an der Wahl mehr als 82 Prozent beteiligt und davon hätten sich 96 Prozent für einen Anschluss der Krim an Russland ausgesprochen. Es gibt aber Zweifel über die veröffentlichten Zahlen. Die Besetzung der Krim wurde international verurteilt und Sanktionen gegen Russland verhängt.
Ein Song, die die Vertreibung der Krimtataren thematisiert, ist das Lied von der ukrainischen Sängerin krimtatarischer Abstammung Jamala, mit dem Titel „1944“, das 2016 den Eurovision Song Contest gewann. Manchmal sagt ein Lied mehr als Tausend Worte, zumal es, wie ich finde, das Leid der Krimtataren so eindrucksvoll beschreibt.
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