Ein Gastkommentar von Nabi Yücel
„Rojava“ lässt tief ins Gewissen und die Moral blicken
Europa steht Kopf; war man seit acht Jahren noch dafür, den syrischen Bürgerkrieg mit allen Kräften erst eskalieren, dann die Glut am Leben zu erhalten, wollte man bis vor acht Tagen, dass die Türkei ihr Militär nicht weiter in den Norden von Syrien gegen die Terrororganisation YPG treibt. Jetzt wo die Türkei mit den USA einen Deal ausgehandelt hat, kann man es kaum erwarten, dass die „kurdische“ YPG das Feuer erneut anfacht und die Türkei aus „Rojava“ zurückschlägt.
Das kommt davon, wenn man fern der Geschehnisse am Fliesentisch Nachrichten und soziale Medien konsumiert und immer mehr von seinen kruden Werten dort wieder preisgibt. Die Folge ist: in Europa ist man Pazifist und Kriegstreiber zugleich, ist frei vom Gewissen und hat die Moral gepachtet.
2014 hatte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine deutlichere Bereitschaft Deutschlands zu militärischen Interventionen in Syrien und Irak verlangt. Deutschland nahm das ab, weil man zuvor politisch die Angst geschürt hatte, die syrische Flüchtlingsbewegung schwappt auf Europa über; es kam dennoch zu massenhafter Flucht nach Europa. Die Türkei sprang ein, um das europäische Gewissen bis heute quasi unentgeltlich zu beruhigen und die Moral hochzuhalten.
Gerade deshalb, weil die Türkei das Gewissen tragen muss, waren und sind Bundeswehr-Tornados auf Fotosafari in Nordsyrien und im Nordirak unterwegs, um für die US-Koalitionsverbündeten Ziele ausfindig zu machen, auf die es sich lohnt Luftschläge durchzuführen. In Spitzenzeiten, wie 2017, starben mit diesen Tornado-Ausflügen allein in Syrien bei Luftschlägen monatlich bis zu 800 Zivilisten, ohne dass die Europäer in Schnappatmung geraten wären oder das Gewissen sich gemeldet hätte. Moralisch anspruchsvoll bombte Europa zusammen mit Russland und dem syrischen Machthaber Assad Syrien in Schutt und Asche.
Wohlgemerkt pries man zusammen mit den USA, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Kanada, Australien, Belgien, Dänemark, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Jordanien die Kampagne als „die präziseste in der Geschichte“. Die in Trümmern liegenden einstigen blühenden mesopotamischen Großstädte wie Rakka (200.000 Einwohner) oder Deir Ezzor (290.000 Einwohner) bestätigen es in zynischer weise.
Währenddessen übte die europäische Bevölkerung sich entweder am Ballermann am Saugen aus Eimern oder war auf der Alm oder an der Côte d’Azur und atmete tief Luft ein; und blieben dort bis zum 9. Oktober 2019 um 16 Uhr. An diesem Tag Punkt 16 Uhr wurden mit dem Abzug der US-Truppen und der Militäroperation der Türkei aus diesen Kriegstreibern nun schlagartig Pazifisten, um nur acht Tage später wieder die Gesinnung auszutauschen und der YPG im Kampf beizustehen. Auch heute versammelt man sich in Köln und zahlreichen Städten in Deutschland, um zusammen mit politischen Parteien und Akteuren Stärke zu beweisen.
Die Infektion breitete sich aber zuvor schon aus: EU-Ratschef Donald Tusk hatte sich schon vom fatalistischen Virus der YPG und PKK infizieren lassen und ist nun gegen eine „Waffenruhe“, gegen den Deal, aber doch für eine weitere militärische Intervention in Syrien. Dieses ambivalente Verhältnis zu einem nicht anerkannten, nicht souveränen, lediglich „Autonomie“ genannten YPG-Terrornest und zur souveränen, anerkannten Nation Türkei, spricht eigentlich Bände.
In Deutschland ist die Flaggenfarbe seit dem 17. Oktober daher auch nicht mehr Schwarz-Rot-Gold, sondern Gelb-Rot-Grün. Annegret Kramp-Karrenbauer, die Bundesministerin der Verteidigung, redete sich im CSU-Parteitag ein, die „Kurden“ hätten ja für die USA und für sie gegen den IS gekämpft. Fehlte noch, dass die Verteidigungsministerin die Terrororganisation YPG als Vorwand nimmt, um bei der CSU die Frauenquote zur Abstimmung vorlegen zu lassen.
Acht lange Jahre haben EU-Staaten und Bundesregierung in Syrien eine „völkerrechtswidrige“ Intervention mitgetragen, ohne das dabei auch nur die geringste Kritik aufgekommen wäre. Acht Jahre lang töteten die parlamentarischen Berufsarmeen dieser europäischen Nationen IS und Zivilisten zugleich. Man kappte nicht nur alle Kanäle zu Assad, man sanktionierte ein ganzes Land samt Bevölkerung, trug Leid und Elend hinein, belegte dabei gleich ganze Regionen, mehrere Groß- und Kleinstädte mit Bombenteppichen und ließ dann die kurdische YPG hinein marschieren.
Die YPG richtete sich daraufhin in den sogenannten „befreiten Gebieten“ gemütlich ein, begann mit ihren Gesinnungsschnüfflern genannt „Asayis“ an, Oppositionelle zu ergreifen, zu foltern und zu ermorden. Jede Minderheit die Querelen veranstaltete, auch christliche, begann man zu unterdrücken, ihnen jegliches demokratisches Mitspracherecht abzusprechen, ihnen mit Vertreibung zu drohen. Diejenigen die sowieso nicht in das angestrebte „Rojava“ passten, wurden gleich ermordet und in der Erde verscharrt oder in Richtung Türkei getrieben.
Aber den Mal-Pazifisten und -Kriegstreibern waren die Ideale und Werte der YPG und die von ihr so blumig betonten Frauenrechte, Demokratie und Freiheit unter ihrer Ägide wichtiger als Mord und Totschlag unter ihrer Kontrolle. Wo aber dieses Unkraut von YPG Fuß gefasst hat, da wächst heute kein Gras mehr! Und jetzt wo dieses Unkraut zusammen mit der IS aus diesen Gebieten rund 30 km tief ins Landesinnere verscheucht werden soll, da entschließen sich die Moralisten-Partei EU, der Türkei das ganze Repertoire an Kriegsverbrechen vorzuhalten, völkerrechtswidriges Handeln zu unterstellen?
Es hakt gewaltig! Die Wahrheit ist irgendwo in der Mitte, aber nie auf einer Seite und niemand hat diese gepachtet. In einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ), sagten Vertreter aramäischer und assyrischer Christen Nordsyriens, dass „kurdische Nationalisten“ die größte Gefahr für sie darstellten. In Europa mag das viele überraschen, sagt auch Augin Kurt Haninke, Chefredakteur von Assyria TV im Interview, der selbst aus Qamishli stammt. Aber die YPG stelle sich in westlichen Medien erfolgreich als multi-ethnische Truppe und Beschützerin von Minderheiten dar. Wie so oft würden sie, die christlichen Minderheiten, aber im Westen kein Gehör dafür finden und müssten mit dem Schlimmsten rechnen.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.