Abraham Melzer, Urgestein der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, nimmt seit jeher kein Blatt vor den Mund, wenn es beispielsweise darum geht, die nunmehr 50 Jahre währende Unterdrückung der Palästinenser anzuprangern.
Darüber hat er sich nicht nur mit seinem Jugendfreund Henryk M. Broder entzweit.
Ohne die wahren Gefahren aus den Augen zu verlieren, zeigt er in seinem Buch, wie der Antisemitismus-Vorwurf missbraucht wurde und wird. Er kritisiert die bedingungslose Unterstützung Israels durch die deutsche Politik und das jüdische Establishment hierzulande. Und er sagt: Nicht in meinem Namen!“
Rezension von Arn Strohmeyer
Abi Melzer ist ein Überzeugungstäter, aber im besten aufklärerisch-humanen Sinne. Dieser deutsch-jüdische Publizist und Verleger kämpft an vielen Fronten, um immer wieder seine Botschaft unter die Leute zu bringen:
Der Zionismus (die israelische Staatsideologie, die die Politik dieses Staates bestimmt) ist von seinem Wesen und seinen Taten her ein inhumaner Siedlerkolonialismus. Er war von Anfang an darauf angelegt, einen „exklusiv jüdischen Staat“ auf dem von einem anderen Volk bewohnten Boden Palästinas aufzubauen. Dieses Aufbauwerk war nicht ohne eine ethnische Säuberung (die Nakba) möglich, die 1948 vor, während und nach der Staatsgründung von den Zionisten durchgeführt, im Krieg von 1967 fortgesetzt wurde und auch heute noch – wenn auch mit differenzierteren Mitteln – in vollem Gange ist.
Denn das Ziel ist immer dasselbe: einen homogenen, rein jüdischen Staat zu schaffen.
Dieses große Unrecht, das mit Israels Aufstieg dem palästinensischen Volk mit der Vertreibung von 800 000 Menschen, der Enteignung seines Landes und der Zerstörung seiner Kultur angetan wurde, verdrängt das offizielle Israel bis heute. Schuldgefühle den verachteten Palästinensern gegenüber hat es nie gegeben und gibt es auch heute nicht, obwohl man sie mit einer brutalen Besatzungspolitik im Westjordanland und einer totalen Abriegelung im Gazastreifen unterdrückt und sich ständig weiter ihr Land aneignet.
Dass ein solches Vorgehen gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstößt, interessiert die israelische politische Elite nicht. Gott hat ihnen laut Bibel das Land geschenkt, argumentieren selbst säkular eingestellte Israelis. Außerdem fügt man hinzu: Wir haben den Holocaust durchgemacht, uns ist alles erlaubt!
Die überaus starke Militärmacht Israel (die viertstärkste der Welt), die von den USA und Europa (gerade auch von Deutschland) getragen wird, macht eine solche Politik möglich. Über die Beurteilung dieser Praxis der gewaltsamen Herrschaft über ein anderes Volk ist aber auch das internationale Judentum zutiefst gespalten. Dem radikalen Nationalismus der Zionisten, der auch starke chauvinistische Züge hat und von einem radikalen religiösen Messianismus unterstützt wird, stehen die Universalisten gegenüber, die sich auf die besten humanistischen Traditionen der jüdischen Religion und der Aufklärung berufen und die Einhaltung von Menschenrechten und Völkerrecht fordern.
Der Streit zwischen diesen beiden Parteien wird erbittert und mit allen Mitteln geführt. Der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug sieht in dieser Auseinandersetzung eine tiefe Krise des Judentums, bei der sich der Staat Israel als der Fels herausstellen könnte, an dem das Judentum auseinanderbrechen kann.
Abi Melzer ist einer der prominentesten Vertreter des jüdischen universalistisch-politischen Denkens in Deutschland, sein Antipode als Vertreter der ultra-zionistischen Denkweise ist der Publizist Henry M Broder. Der Gegensatz zwischen ihren beiden Positionen prägt in Deutschland weitgehend die Auseinandersetzung um Israel und den Antisemitismus. Die universalistische Auffassung, die Melzer mit Vehemenz vertritt, besagt, dass der „alte Antisemitismus“ nach der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis (Holocaust) tabuisiert und geächtet ist und nur noch randständig existiert und deshalb eigentlich unbedeutend ist.
Der Zionismus hat aber eine neue Form des „Antisemitismus“ kreiert und konstruiert: den sogenannten gegen Israel gerichteten „Antisemitismus“, auch „Israelantisemitismus“ genannt. Er besagt: Israel ist ein jüdisches Kollektiv und jede Kritik an seiner Politik ist antisemitisch. Dem widersprechen die Universalisten – und damit auch Melzer – sehr heftig. Sie sagen: Das ist ein Trick, eine Taktik, die Israel und seine Anhänger und Verteidiger hier anwenden, um die Verbrechen, die der zionistische Staat mit seiner brutalen Besatzung, Unterdrückung und Landraub an den Palästinensern begeht, zu verschleiern.
Um ihr Konstrukt des Antisemitismus und den permanent eingesetzten Antisemitismus-Vorwurf aufrechtzuerhalten und durchhalten zu können, müssen die Zionisten einen weiteren Trick anwenden: Sie trennen nicht die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel und auf der anderen Seite Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel. Letzteres bedeutet immer Kritik an Israels Politik, aber nicht an seiner Existenz. Kritik an Israels Politik ist so gesehen in den Augen der Zionisten immer „Antisemitismus“, ein diffamierender und verleumderischer Vorwurf, der die Israel-Kritiker ins Mark treffen soll bis zur Zerstörung ihrer Existenz, denn heute als Antisemit dazustehen, ist ein schlimmer Makel.
Hier setzt Abi Melzer in seinem neuen Buch „Die Antisemitismus-Macher. Deutschland, Israel und die neue Rechte“ an, mit dem er das zionistische Argumentationsgebäude direkt angreifen will, seine fragwürdigen Begriffe und Vorgehensweisen hinterfragen und Ross und Reiter nennen, die die Attacken mit der Antisemitismus-Keule vorbringen. Seine Botschaft, die er in seinem Buch verkündet, formuliert er so: Antisemit ist derjenige, der Juden hasst und vernichten will, nur weil sie Juden sind.
Aber heute hat sich die Situation durch das Einwirken der Zionisten geradezu umgekehrt. Ein Antisemit ist jetzt derjenige, den Juden hassen und vernichten wollen. Dieser „neue Antisemitismus“ wird vom Zionismus und seinen Verteidigern künstlich erzeugt und propagandistisch verbreitet – zu dem einzigen Zweck, um von Israels Politik gegenüber den Palästinensern abzulenken und jede Debatte über diese Politik im Keim zu ersticken.
Zionismus definiert Melzer als eine kolonialistische Ideologie aus dem 19. Jahrhundert, die eng verbunden ist mit imperialistischer Expansion, mit der Unterdrückung eines anderen Volkes, mit permanenter Okkupation von Land und mit der Vertreibung der indigenen Bevölkerung mit der Absicht, das ganze Land mit Juden zu besiedeln.
Antizionismus ist die Gegnerschaft gegen diese Ideologie, aber nicht gegen das Judentum, das ursprünglich eine Stammesreligion war, im Laufe seiner Entwicklung aber auch universelle Werte entwickelt hat, die die Geschichte der Menschheit stark beeinflusst haben. Melzer zitiert immer wieder den jüdischen Rabbi Hille mit dem Satz: „Tue Deinem Nachbarn nicht an, was Du nicht willst, dass man es Dir antut!“
Zionismus ist mit seinem überaus starken Nationalismus, der eher an die alte partikularistische Stammestradition anknüpft, vom universalistisch verstandenen Judentum also abzugrenzen, was die Zionisten natürlich bestreiten,da sie behaupten, alle Juden der ganzen Welt zu vertreten.
Melzer schreibt, dass die Zionisten heute mit großem Aufwand, der an Hysterie grenzt, versuchen, die Öffentlichkeit mit aller Macht zu überzeugen, dass „A
ntizionismus“ nichts anderes ist als „Antisemitismus“ im neuen Gewand. Er nennt die Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland, die diese Hysterie schüren, deckt ihre Methoden des Vorgehens auf und wirft ihnen vor, durch ihr intolerantes Auftreten die im Grundgesetz verbürgte Meinungsfreiheit zu bedrohen – ein Wesenselement jeder Demokratie.
Man kann ihr Vorgehen auch als totalitär bezeichnen, weil sie sich im Besitz der alleinigen, absoluten Wahrheit wähnen und eine Sonderstellung beanspruchen, die sie dazu nutzen, die Kritiker der israelischen Politik (also die Univers
alisten) an jeder politischen Entfaltung zu hindern.
Melzers Buch endet mit einem Appell, Mut und Zivilcourage zu zeigen, nicht zu schweigen und gegen diese neue Form des Totalitarismus aufklärerisch vorzugehen. Er fragt: „Wieso haben wir in Deutschland eine Debatte über Antisemitismus statt einer Debatte über Israels Kriegsverbrechen? Wieso gibt es seit Jahren Seminare über Antisemitismus, aber keine Seminare über das, was in Hebron und den besetzten Gebieten, vor allem auch in Gaza passiert?“
Und: „Jeder sollte sich dessen bewusst werden, dass eine Debatt
e über den Nahost-Konflikt nichts mit Antisemitismus zu tun hat, sondern allein mit Fragen des Völkerrechts, der UNO-Charta, den Genfer Konventionen, die leider von den Israelis tagtäglich verletzt werden, und damit, dass man darüber reden darf und soll und auch eine eigene Meinung haben darf.“
Da man in Deutschland natürlich keine Debatte über Juden, Israel und Antisemitismus führen kann, ohne den Holocaust zu erwähnen, schließt Melzer sein Buch mit einem Zitat des deutsch-jüdischen Psychologie-Professors Rolf Verleger, das als Motto über Melzers ganzem Text stehen könnte. Verleger hatte an seine zionistischen Gegner,
„Was Sie ‚Antisemitismus‘ nennen und was in Wirklichkeit scharfe Kritik an Israel ist, sind die richtigen Konsequenzen aus der Hitler-Katastrophe: Gegen Unrecht aufzustehen, einem Unrecht, an dem wir in Deutschland mitverantwortlich sind, da wdie permanent mit dem Antisemitismus-Vorwurf operieren, geschrieben:
Nach der Lektüre von Melzers Buch kann man das Resümee ziehen: Dieses Buch war überfällig: Endlich erhebt hier einer mutig die Stimme gegen die verlogenen philosemitischen Ideologen, die alles tun, um mit dem Antisemitismus-Vorwurf Israels völkerrechts- und menschenrechtswidrige Politik gegenüber den Palästinensern zu verschleiern und damit dem Kampf gegen den wirklichen Antisemitismus einen äußerst schlechten Dienst erweisen.ir unsere Unfähigkeit, adäquat mit der jüdischen Minderheit umzugehen, den Menschen in Palästina aufgehalst haben.“
Abraham Melzer: Die Antisemiten-Macher. Deutschland, Israel und die neue Rechte, Westend Verlag Frankfurt/ Main, ISBN 978-3-86489-183-0, 18 Euro
(Foto: Wikimedia)