Drohungen von Rechts: Politik reagiert erst, wenn sie selbst betroffen ist
Entgegen dem stets gerne – und am liebsten, wenn es um die Abgrenzung zu anderen Kulturen geht – beschworenen Selbstbild von „christlich-abendländischen Werten“, Friedfertigkeit und höchster Zivilisation ist die Geschichte des Westens nicht annähernd so friedlich und von hoher Moral geprägt, wie man denken mag.
Man muss dabei nicht bis zu den Kreuzzügen oder Columbus zurückgehen, um auf Beispiele einer christlichen Version des heutigen „Islamischen Staates“ zu stoßen. Auch in der jüngeren Vergangenheit waren vermeintliche Meilensteine auf dem Weg zu Demokratie und Universalität der Menschenrechte mit Blut befleckt – nicht zuletzt auch die Französische Revolution, die untrennbar mit den Gräueltaten in der Vendée und der Ermordung politisch Andersdenkender unter der Guillotine verbunden bleibt.
Im Laufe der letzten Tage wurde diese dunkle Seite der westlichen Demokratie in ihrer Erscheinungsform als Mob Rule wohl unfreiwillig im Rahmen zweier Demonstrationen wieder in Erinnerung gerufen. Auf der von 250 000 Personen besuchten Kundgebung gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP in Berlin war unter anderem eine nachgebaute Guillotine zu sehen, auf der eine Drohung an Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel („!Pass! blos auf Sigmar“) zu lesen war.
Auch auf der Kundgebung der rechtsextremen und islamfeindlichen „Bürgerbewegung“ Pegida in Dresden vor knapp 10 000 Teilnehmern tauchte eine kaum verhohlene Drohung an führende Politiker des Landes auf. Ein Galgen, an dem zwei Stricke und darauf Schilder mit den Aufdrucken „Reserviert Siegmar ‚das Pack‘ Gabriel“ und „Reserviert Angela ‚Mutti‘ Merkel“ befestigt waren, wurde offenbar ohne nennenswerte Vorbehalte seitens der übrigen Demonstrationsteilnehmer durch die Stadt getragen.
Noch haben die jeweils Verantwortlichen nur der deutschen Grammatik und Rechtschreibung Gewalt angetan – zumindest mit Blick auf die Drohung während des Pegida-Aufmarsches hat sich jedoch diesmal auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und ermittelt des Verdachts der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten wegen gegen Unbekannt.
Angesichts der zunehmenden Radikalisierung von Pegida und anderer so genannter „Islamkritiker“, vor der vonseiten antirassistischer Kräfte bereits seit Längerem gewarnt wird, bleibt abzuwarten, ob sich nach diesem Ereignis wenigstens der Verfassungsschutz dazu bequemen wird, diese bislang mit auffallender Nachsicht behandelten Bestrebungen endlich genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Inlandsgeheimdienst, der erst jüngst wieder ins Gerede gekommen war, als V-Mann-Kontakte zu einem jüngst verstorbenen Neonazi und Mitorganisator der Pegida-Vorgängerproteste von „Hogesa“ enthüllt wurden, hätte ohnehin einiges an Imageverlust im Zusammenhang mit saloppem Umgang mit Rechtsextremismus wettzumachen. Dass die Staatsanwaltschaft sich um den Fall kümmert und auch in Teilen der Politik die Alarmglocken zu schrillen beginnen, ist zu begrüßen.
Es ist aber auch bezeichnend, dass die Erkenntnis, dass in den Reihen der so genannten „besorgten Bürger“ auch ein nicht unerhebliches Gewaltpotenzial heranwächst, aus dem durchaus eines Tages ein neuer Rechtsterrorismus hervorgehen könnte, erst jetzt kommt, da sich der Extremismus direkt gegen die politische Klasse richtet. Die zahlreichen Fälle rechtsextremer Straftaten und der Gewalt gegen Sachen, insbesondere gegen Gebäude, in denen Flüchtlinge untergebracht werden sollen, hätten eigentlich schon vor längerer Zeit zu stärkerer Aufmerksamkeit beitragen müssen.
Im ersten Halbjahr 2015 hat es nach Angaben der Polizei bereits 8100 rechte Straftaten gegeben, 400 Menschen wären dabei verletzt worden. Dies teilte das Bundesinnenministerium am Dienstag auf Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) mit. Die Zahlen stellten aber, so die Linke, noch „keine abschließende Statistik dar“, sondern könnten sich aufgrund von Nachmeldungen noch „teilweise erheblich“ erhöhen.
Die Politik scheint aber erst zu reagieren, wenn sich der braune Pöbel gegen sie selbst zu richten beginnt. Und nicht mal dann misst man mit gleichem Maß. Als in der Türkei gegen Extremisten vorgegangen worden war, die Galgen mit Erdoğan-Puppen durch die Straßen getragen hatten oder als eine Zeitung dem Präsidenten in einer Schlagzeile verklausuliert mit einem Todesurteil drohte, hatte man stets die „Pressefreiheit“ und „Meinungsfreiheit“ angemahnt.
Die Gewalt im politischen Diskurs und der totalitäre Vernichtungswille gegenüber Andersdenkenden ist ein jahrhundertealtes dunkles Erbe in Europa. Zu lange wollte man dieser Tatsache nicht ins Auge sehen und projizierte diesbezügliche Ängste auf Außenstehende. Langsam ist es an der Zeit, diesen Selbstbetrug zu beenden.