Ein Gastkommentar von Özgür Çelik
Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA markiert keinen bloßen Politikwechsel, sondern einen Bruch mit Gewissheiten, auf denen Europas strategische Selbstwahrnehmung jahrzehntelang beruhte.
Wer sie lediglich als harschen, aber legitimen Weckruf zur europäischen Eigenverantwortung liest, greift zu kurz. Wer sie ausschließlich als feindselige Kampfansage an Europa interpretiert, ebenso. Tatsächlich konfrontiert Washington Europa mit einer doppelten Herausforderung: der Notwendigkeit, endlich handlungsfähig zu werden – und der Einsicht, dass der wichtigste Partner nicht mehr zwangsläufig ein wohlwollender Garant der eigenen Ordnung ist.
Unübersehbar ist zunächst der nüchterne Kern der amerikanischen Botschaft. Die USA priorisieren ihre Interessen neu und erwarten von Europa mehr wirtschaftliche Dynamik, sicherheitspolitische Leistungsfähigkeit und strategische Kohärenz.
Europas Moment der Wahrheit
Diese Kritik trifft einen realen Nerv. Europas politische Entscheidungsstrukturen sind langsam, seine Verteidigungsanstrengungen fragmentiert, seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unter Druck. Wer global mitgestalten will, kann sich strukturelle Lähmung nicht leisten. Insofern ist der amerikanische Kurs weniger überraschend als unangenehm ehrlich.
Doch die Strategie erschöpft sich nicht in einer transaktionalen Neujustierung. Sie ist ideologisch aufgeladen und richtet sich nicht nur an Europas Fähigkeiten, sondern an seine politische Ordnung. Während Washington in anderen Weltregionen ausdrücklich betont, keine Werte exportieren zu wollen, gilt diese Zurückhaltung ausgerechnet nicht für Europa.
Hier wird nationale Souveränität gegen supranationale Integration ausgespielt, ethnokulturelle Identität gegen liberale Demokratie und Exekutivmacht gegen institutionelle Kontrolle. Die EU erscheint nicht als Partner, sondern als Hindernis.
Damit verschiebt sich das transatlantische Verhältnis qualitativ. Europa soll mehr Verantwortung übernehmen, aber unter amerikanischer Anleitung; es soll stärker werden, aber nicht autonom; es soll stabil sein, aber nicht notwendigerweise souverän.
Sicherheitspolitisch bedeutet das eine Abkehr von einer regelbasierten Ordnung hin zu einer Logik der Macht. Wirtschaftlich heißt es, europäische Märkte, Regulierung und Energiepolitik an amerikanischen Interessen auszurichten. Innenpolitisch wiederum stärkt diese Haltung jene Kräfte in Europa, die den Abbau liberaler Institutionen ohnehin betreiben.
Gerade deshalb wäre es fatal, auf diese Entwicklung entweder mit Trotz oder mit Anpassung zu reagieren. Europas Aufgabe ist komplexer. Es muss die berechtigte Kritik an seiner eigenen Schwäche ernst nehmen, ohne sich einer Ordnung unterzuordnen, die seine politischen Grundlagen aushöhlt. Strategische Autonomie ist kein antiamerikanisches Projekt, sondern eine Voraussetzung für Partnerschaft auf Augenhöhe. Wer nur reagiert, wird gestaltet.
Das gilt besonders für Sicherheit und Verteidigung. Europas Abhängigkeit von außereuropäischen Systemen ist nicht Ausdruck mangelnder Ressourcen, sondern politischer Zersplitterung. Ein gemeinsamer europäischer Rüstungs- und Verteidigungsmarkt, effiziente industrielle Kooperation und handlungsfähige Entscheidungsstrukturen sind keine Zukunftsvisionen mehr, sondern Mindestvoraussetzungen.
Gleiches gilt für die Außenpolitik: Ob gegenüber China, Russland oder den USA – Europa entfaltet nur dann Wirkung, wenn es geschlossen auftritt und Interessen strategisch, nicht moralisch impulsiv vertritt.
Die eigentliche Lehre aus der neuen US-Strategie ist daher ambivalent. Europas größtes Risiko bleibt die eigene Zögerlichkeit. Doch ebenso gefährlich wäre die Illusion, dass Stärke allein genügt, wenn die normative Grundlage der Partnerschaft erodiert.
Ein Europa, das wirtschaftlich robust, sicherheitspolitisch handlungsfähig und politisch geschlossen ist, wird ein unverzichtbarer Akteur bleiben. Ein Europa, das seine liberalen Prinzipien im Tausch gegen vermeintliche Stabilität preisgibt, verliert mehr als Einfluss – es verliert seinen inneren Kompass.
Die Entscheidung darüber fällt nicht in Washington. Sie fällt in Europa.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Autor
Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland
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