Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß
Das Leben der Khanstochter, Dichterin und Mäzenin Churschidbanu Natäwan veranschaulicht das Potenzial aserbaidschanischer Frauen am Beginn der Moderne und bietet ein Panorama der Geschichte Karabachs.
Churschidbanu Natäwan (1837-1897) war eine in vieler Hinsicht außergewöhnliche Frau. Sie entstammte der letzten Herrscherfamilie von Karabach und zählt gleichzeitig zu den bedeutendsten aserbaidschanischen Dichterinnen des 19. Jahrhunderts. Berühmtheit erlangte sie auch als Leiterin des literarischen Zirkels „Versammlung des vertrauten Umgangs“ (Mädschlisi-Üns) in ihrer Heimatstadt Schuscha.
Dort hinterließ sie auch als Unternehmerin und Sponsorin bleibende Spuren, unter anderem in Form eines Wasserleitungssystems. Teile davon haben selbst die Verwüstungen eines Jahrhunderts voller Unruhen, Massaker und Besatzung überstanden und sind bis heute sichtbar geblieben.
Das eigentlich Interessante am Leben dieser bemerkenswerten Frau ist, dass all die Rollen, die sie spielte oder spielen musste, sowohl miteinander als auch mit der politischen und Kulturgeschichte Karabachs und Aserbaidschans im 19. Jahrhunderts zu einem einzigen, untrennbaren (kultur-)historischen Gesamtbild verwoben scheinen.
Spross einer bedeutenden Dynastie
Geboren wurde Churschidbanu Natäwan im Jahr 1837 (nach manchen 1830 oder 1832) als Tochter von Mehdigulu (1763-1845). Dieser regierte von 1806 bis 1822 nominell als letzter Khan Karabachs, stand währenddessen aber unter russischer Tutel. Mütterlicherseits war Churschidbanu außerdem mit der damals über Persien herrschenden Dynastie der Kadscharen, außerdem mit der vormaligen Khansfamilie von Gändschä – das heute die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans ist – und mit dem berühmten Karabacher Dichter Gasim Bey Zakir (1784-1857) verwandt.
Der Namensbestandteil „Churschidbanu“ ist der eigentliche Geburtsname, während Natäwan nur der später (möglicherweise erst im Jahr 1872) angenommene Dichtername ist. „Natawan“ bedeutet wörtlich „die Schwache“. Das Pseudonym spielt offensichtlich auf die fragile körperliche Verfassung und die zahlreichen persönlichen Krisen und Rückschläge an, mit denen die Dichterin zeit ihres Lebens fertig werden musste.
Wer aus ihrer Feder erhaltene Gedichte liest, wird in vielen von ihnen einen traurigen, nicht selten klagenden Ton ausmachen. Dieser geht wohl über das Maß des Jammervollen, das in der von Liebesschmerz und der Wahrnehmung von Liebe als Heimsuchung und Krankheit geprägten klassischen orientalischen Dichtung ohnehin üblich ist, noch hinaus. Im Volk war Churschidbanu daneben aber auch als die „Khanstochter“ (Kaan kizi) oder „Einzigartige Perle“ (Dürri-yäkta) bekannt.
Das Private wird politisch
Der Tod ihres Vaters war für Churdschidbanu Natäwan nicht nur ein schwerer persönlicher Schlag, sondern leitete auch einen ganz neuen Lebensabschnitt ein. Bis dahin war sie entsprechend ihrer Abkunft eine hervorragend ausgebildete, in den obersten Schichten und Intellektuellenkreisen verkehrende junge Aristokratin gewesen. Doch Mehdigulus Tod führte sie immer stärker ins öffentliche Leben hinaus.
Ihre Rolle als eine der letzten Überlebenden der prestigereichen Herrscherfamilie von Karabach führte nunmehr dazu, dass sich Brautwerber für sie zu interessieren begannen. Zunächst versuchte Churdschidbanus Cousin Dschäfärgulu (1787-1866), ebenfalls ein prominentes Mitglied der Khansfamilie, sie mit seinem Sohn zu verbinden, blitzte mit dem Ansinnen aber ab.
Ungefähr 1848 interessierte sich dann der höchste russische Repräsentant im Kaukasus, Vizekönig Graf Michail Semenovič Voroncov (1782-1856), persönlich für die heiratsfähige Khanstochter. Hieran sieht man, dass Russland auch auf dem Weg der Heiratspolitik konsequent daran arbeitete, seine Kontrolle über die eine Generation zuvor einverleibten kaukasischen Territorien für immer fest zu verwurzeln.
Den Wünschen des mächtigen Namestnik (Vizekönigs) konnte sich Churschidbanus Mutter bei den Heiratsverhandlungen in Tiflis kaum widersetzen. So gelang es der russischen Seite, einen ihr genehmen Kandidaten durchzusetzen, nämlich Fürst Chasaj Ucmiev (1808-1867). Ucmiev war ein in russische Dienste getretener Adeliger osmanisch-kumükischer Abstammung.
Das Paar heiratete 1850 in Schuscha, zog jedoch kurz danach an Ucmievs Dienstort Tiflis um. Die Heirat mit Ucmiev bedeutete für die Khanstochter einerseits eine Einschränkung ihrer Freiheit. Anderseits durfte sie sich aufgrund des Fürstenrangs ihres Gattin ebenfalls Fürstin (russisch: knjagina) nennen, was ihren gesellschaftlichen Status erhöhte und absicherte.
Eine Ehe mit Dissonanzen
Die ersten Ehejahre verliefen nicht einfach. Zunächst wurden sie von ernsten gesundheitlichen Problemen Churdschidbanus überschattet. Auf Empfehlung von Ärzten, die ihr Blutarmut diagnostizierten, kehrte sie bereits 1852 nach Schuscha zurück. Allerdings entstand neues Ungemach dadurch, dass eine ersehnte Schwangerschaft auf sich warten ließ.
Hinzukam, dass sich Spannungen in der jungen Ehe abzeichneten, vor allem, nachdem auch der als herrschsüchtig beschriebene Ucmiev seinen Wohnsitz 1853 von Tiflis nach Schuscha verlegt hatte. Glücklicherweise besserte sich Churschidbanus Gesundheitszustand und war Ende 1853 wieder vollkommen hergestellt.
Um der ausbleibenden Schwangerschaft auf die Sprünge zu helfen, reiste das Ehepaar 1854 nach Baku, um die Bibiheybät-Moschee aufzusuchen. Diese Stand im Ruf, bei derartigen Problemen Hilfe von oben zu vermitteln. Und wirklich gebar Churschidbanu 1855 einen Sohn und ein Jahr darauf eine Tochter.
Begegnungen in Baku
Ebenfalls in Baku fand die legendär gewordene Begegnung des Ehepaars mit Alexandre Dumas dem Vater (1802-1870) statt, der während seiner Kaukasusreise 1858 durch die Stadt kam. Während des gemeinsamen Abendessens im Haus des Bakuer Polizeichefs schenkte Churschidbanu dem berühmten französischen Schriftsteller einen von ihr selbst hergestellten Tabaksbeutel, von dessen Schönheit sich Dumas entzückt zeigte.
Neubeginn trotz immer neuer Rückschläge
Die Harmonie, welche das Ehepaar bei der Begegnung mit Dumas ausgestrahlt hatte, war jedoch nur scheinbar. Die latente Krise der Ehe brach sich in den folgenden Jahren wieder ihre Bahn, insbesondere nachdem Churdschidbanus 1861 mit ihrer Mutter eine wichtige Stütze in ihrem Leben verloren hatte.
Schon 1864, sechs Jahre nach dem Treffen mit Dumas, verließ Ucmiev seine Gattin für immer. Drei Jahre später beging er – angeblich – Selbstmord. Bis heute halten sich Gerüchte, dass sein Tod etwas mit Verbindungen zu tun haben könnte, die er zum kaukasischen Erzfeind Russlands unterhalten haben soll, dem Imam Schamil (1797-1871).
Churschidbanu ließ sich von all diesen neuerlichen Wendungen des Schicksals nicht unterkriegen, sondern blickte nach vorn und nahm die Zukunft in die eigenen Hände. Ihr Erfolg wurde unter anderem auf der Weltausstellung von Paris im Jahr 1867 sichtbar, auf der aus ihrer Zucht stammende Karabacher Pferde gezeigt wurden. Auch führte Churschidbanu Agrarunternehmen, mit denen sie im weiteren Verlauf ihres Lebens erfolgreich war. Unter anderem wurden ihre landwirtschaftlichen Produkte auf Messen in Tiflis und Moskau ausgestellt und mehrfach preisgekrönt.
1869 heiratete sie erneut, und diesmal war es keine arrangierte Ehe. Mit dem Hutmacher Seyid Hüseyn hatte sie drei Söhne und zwei Töchter. Das Leben der Khanstochter war nun in seine letzte und vielleicht interessanteste Phase eingetreten, in der sie sich als Wohltäterin, Unternehmerin, Mäzenatin und Dichterin einen bis heute nicht verblassenden Ruhm erwarb.
Churschidbanu und die Blüte der Kultur Karabachs
In das Jahr 1872 fielen diesbezüglich zwei wichtige Ereignisse. Zum einen wurde das als „Quellen der Khanstochter“ bekannte Wasserleitungssystem Schuschas fertiggestellt, das sie mit 100 000 Rubel aus ihrem Privatvermögen finanziert hatte. Zum anderen war es das Jahr, in dem sie die Leitung des literarischen Klubs Mädschlisi-Üns übernahm.
Die in Churschidbanus Stadtpalast oder dessen Garten stattfindenden Treffen des literarischen Zirkels können als Sternstunden der aserbaidschanischen Kultur bezeichnet werden. Er versammelte die Crème der Dichter, Musiker, Künstler und Intellektuellen Karabachs, zu der auch die Gastgeberin selber zählte.
Die letzten Jahre
Allerdings bestand auch diese letzte, aus dem Nachhinein betrachtet glanzvollste Phase im Leben der Karabacher Khanstochter nicht nur aus Sonnenseiten. 1884 verstarb in jugendlichem Alter Mir Abbas, der heißgeliebte erste Sohn aus ihrer zweiten Ehe. Etliche ihrer Verse betrauern diesen fürchterlichen Verlust. Hinzukamen zunehmende finanzielle Schwierigkeiten, die sich auch aus Streitigkeiten um ihr Erbe ergaben. Diese Probleme zwangen sie schließlich sogar zur Einstellung ihrer geliebten „Versammlung des vertrauten Umgangs“.
Am 2. Oktober 1897 verstarb Churschidbanu Natäwan in ihrer Geburtsstadt. Sie wurde im Familiengrab der Khansdynastie von Karabach, dem sogenannten Imarät, in der Stadt Aghdam beigesetzt.
Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe und seit 2019 Privatdozent an der FU Gießen. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417). Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.
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