Osman Kavala und die domaine réservé
Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Osman Kavala sitzt in der Türkei mit einer Unterbrechung von nur einem Tag seit 1456 Tagen in Untersuchungshaft. Problematischer als die mutmaßlichen Verirrungen der türkischen Justiz sind jedoch die Reaktionen aus dem westlichen Ausland. Sie messen mit zweierlei Maß. Empörung und Doppelmoral als Volkssport?
Noch hatten sich die unzähligen Prozessbeobachter, darunter ausländische Diplomaten, vor dem Gerichtssaal in Istanbul nicht eingefunden, um bei der Verhandlung gegen Osman Kavala am 18. Oktober beizuwohnen, schon kursierten in sozialen Netzwerken die ersten Tweets und Retweets der zehn westlichen Botschaften, die darin die Freilassung von Osman Kavala forderten. Damit begann eine diplomatische Krise, die seinesgleichen sucht.
Inzwischen versuchen die westlichen Staaten, deren Botschafter sich am Appell an die türkische Justiz beteiligt hatten, die Wogen mit unerträglich rabulistischer Art zu glätten. Fakt ist, dass die Einmischung in innere Angelegenheiten eines Landes sich nicht darin erschöpft, Zwang auszuüben. Nach Völkergewohnheitsrecht reicht schon eine Forderung gegenüber einem einzelnen Staatsorgan aus, um es als „domaine réservé“ gegen die Bestimmung des politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen Systems innerhalb des eigenen Staates sowie die Gestaltung der auswärtigen Politik zu interpretieren.
Kommen wir zum Grund des diplomatischen Geplänkels zurück: Faktisch saß der türkische Kulturmäzen Osman Kavala in Zusammenhang mit den Gezi-Protesten zwischen November 2017 und Februar 2020 in Untersuchungshaft, sprich, 853 Tage. Nur einen Tag nach der Haftentlassung setzte die türkische Generalstaatsanwaltschaft die seit Februar 2020 bis heute – also 615 Tage – anhaltende Untersuchungshaft mit einer grundverschiedenen mutmaßlichen Straftat – gescheiterter Putschversuch – durch.
In Zusammenhang mit der Untersuchungshaft zwischen November 2017 bis Februar 2020 reichte Osman Kavala am 29. Dezember 2017 Individualbeschwerde beim türkischen Verfassungsgericht ein. Am 7. Juni 2018 reichte Osman Kavala auch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Am 22. Mai 2019 verkündete das Verfassungsgericht, dass die Rechte des Klägers nicht angetastet worden seien. Am 4. Mai 2020 reichte Kavala erneut eine Beschwerde beim Verfassungsgericht gegen die Haftververlängerung ein. Am 10. Dezember 2019 entschied das EGMR, dass die Rechte von Osman Kavala verletzt worden seien und daher unverzüglich freizulassen sei. Am 9. März 2020 legte die Türkei Widerspruch gegen das Urteil des EGMR ein, die am 19. Mai 2020 abgeschmettert wurde. Das türkische Verfassungsgericht entschied am 29. Dezember 2020, dass die Rechte von Osman Kavala in Zusammenhang mit der Haftverlängerung nicht verletzt worden seien.
Wie aus der Urteilsverkündung des türkischen Verfassungsgerichts hervorgeht, befasste man sich wie das Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem ersten Strafverfahren – siehe Verfahrensnummern der Prozesse, also zur Untersuchungshaft zwischen 2017 und 2020, die in Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Gezi-Protesten einherging. Faktisch hätte Osman Kavale also erneut eine Individualbeschwerde beim türkischen Verfassungsgericht zum neuerlichen Verfahren einlegen, die nationalen Distanzen durchlaufen und im Anschluss den EGMR wiederholt anrufen müssen, weil das jüngste Verfahren nichts mit dem ersten Verfahren von 2017 bis 2020 zu tun hat. Fakt ist, dass die Türkei ihre Strafrechtsnormen vor Jahren überarbeitet und die Untersuchungshaft von fünf auf zwei Jahre gekürzt hat. Nach dem gescheiterten gewaltsamen Putschversuch setzte die türkische Regierung einen zeitlich befristeten Erlass durch, mit der die Untersuchungshaft erneut auf bis zu fünf Jahre verlängert werden kann, wenn denn die Schwere der Vorwürfe sowie die Schwere der Beweisführung überwiegt. Die Moral hinter dieser Faktensammlung ist, dass die westlichen Staaten je nach politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Lage bei der Auslegung ihrer eigenen Rechtsnorm überaus großzügig sind und die Normen selbst dehnbar auslegen. Wie sieht es eigentlich in Zusammenhang mit der Dauer der Untersuchungshaft in Europa aus, wenn die Sicherheitslage bedroht erscheint? Als Beispiel Deutschland:
Der selbsterklärte Revoluzzer Fritz Teufel saß 5 Jahre in Untersuchungshaft, bevor er freigesprochen wurde. Der NPD-Politiker Ralf Wohlleben befand sich bis Juli 2018 insgesamt sechs Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Untersuchungshaft von Teufel und Wohlleben im Nachhinein als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gerügt. Mit einem Urteil des Landgerichts Köln vom 14. August 2018 wurde ein Angeklagter nach fünf Jahren Untersuchungshaft freigesprochen. Für die lange in Haft verbrachte Zeit erhielt der Freigesprochene aufgerundet 22.800 EUR Haftentschädigung. Das Oberlandesgericht Brandenburg hatte den ehemaligen NPD-Politiker Maik Schneider nach drei Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen. Seit Mai 2017, also seit fast vier Jahren, sitzt ein mutmaßliches früheres IS-Mitglied in Berlin in Untersuchungshaft – damals war der junge Mann noch minderjährig. Nach einer achtjährigen Untersuchungshaft wurde ein Mann 2005 vom Verfassungsgericht auf freien Fuß gesetzt.
Im Ländervergleich innerhalb der Europäischen Union wird die Dauer der Untersuchungshaft je nach aktueller Sicherheitslage ähnlich verlängert und überdehnt. Frankreich setzte nach den Anschlägen von 2015 die Dauer der Untersuchungshaft hoch. Richter können nach wie vor je nach Schwere der Vorwürfe die Untersuchungshaft auf bis zu 80 Monate verlängern. In Spanien kann die Untersuchungshaft auf bis zu fünf Jahre verlängert werden, wenn es sich dabei um Separatismus- oder Terrorismus-Vorwurf handelt.
Leider ist in Deutschland nicht nur den Politikern der Sinn und die Sensibilität für die Sicherheitslage eines befreundeten oder verbündeten Staates abhandengekommen. Man sehe sich nur mal die offen zutage geförderten Demonstrationen völkisch-kurdischer Separatisten an, die unverhohlen einer terroristischen Vereinigung huldigen, dazu auffordern, die Verbotspraxis gegen die Terrororganisation PKK aufzuheben. Statt Einhalt zu gebieten und „Halt“ zu rufen und Anstand sowie Recht und Gesetz einzufordern, werden Türkischstämmige in Europa, vor allem in Deutschland, angefeindet und somit folgerichtig Gewalt in der Türkei befürwortet. Deutschland kultiviert dieses Denkmuster, die von Politikern, Leitmedien und großen Teilen der Öffentlichkeit geradezu aufgesogen und als schnappatmerische Empörung und heuchlerische Doppelmoral wieder ausgestoßen wird.
Inzwischen hat dieses Denkmuster auch das diplomatische Corps erreicht, da sie sich über rechtliche Normen im diplomatischen Verkehr sowie ungeschriebene Regeln, Gebräuche und Konventionen hinwegsetzen. Diese diplomatischen Gepflogenheiten sind aber nicht Selbstzweck, sondern dienen der möglichst reibungslosen Kommunikation zwischen den Staaten. Das hat man eklatant verletzt, in dem man Fakten beiseite schaffte oder geflissentlich überging.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Auch interessant
– AfD-Obmann Petr Bystron –
Fall Osman Kavala: AfD kritisiert deutschen Botschafter
In der vergangenen Woche hatten die Botschafter einiger Länder, darunter auch Deutschland, in der Türkei die Freilassung des inhaftierten Unternehmers Osman Kavala gefordert.