Flüchtlingskrise oder Völkerwanderung? Europa fehlt es an Rückgrat!
Ein Gastkommentar von Nabi Yücel
Vor zwei Wochen kamen die Teilnehmer der Libyen-Konferenz in Berlin zusammen, darunter der türkische Präsident Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin. Entschieden wurde unter anderem mit Bundeskanzlerin Merkel, dass das Waffenembargo zu respektieren und stärker zu kontrollieren sei. Das Waffenembargo wird weder von der einen Seite, noch von der anderen eingehalten. Ein erneutes Unvermögen der Europäer?
Ich schweife mal etwas zurück in die Vergangenheit: Der Untergang Roms wird in der Fachwelt vor allem auf die Völkerwanderung zurückgeführt. Das Wohlstandsgefälle zwischen Rom sowie Römern und nicht-/unterworfenen Stämmen und Völkern war mit ein Grund für die Völkerwanderung. Ein anderes die sehr hohen Steueraufkommen sowie Zwangsabgaben. Schon vor dem Einfall der Hunnen wanderten Abertausende Vandalen, Goten, Sueben oder Alanen in römische Provinzen ein, um am römischen Wohlstand teilzuhaben. Rom verlor daraufhin stetig an Macht, Einfluss und damit auch an Wirtschaftskraft; der Niedergang war unaufhaltsam und diese germanischen Stämme waren maßgeblich daran beteiligt, die sich heute mit dieser Kultur und Vergangenheit rühmen.
In der Menschheitsgeschichte gab es viele Völkerwanderungen; die meisten dieser Völker wanderten ohne die Option aus, wieder in die angestammten Gebiete zurückzukehren. Ich hatte mir vor Wochen den Spaß erlaubt, mit einem DNA-Test eine Ethnizität-Schätzung vornehmen zu lassen. Das Ergebnis war jedenfalls interessant, aber verständlich: Völkerwanderung. Als Passtürke mit Wurzeln aus der Türkei, also einem Land das schon immer als Vielvölkerstaat gilt, nicht verwunderlich.
Verwundert war ich aber jüngst über eine wissenschaftliche Abhandlung über Galater. Das sind Nachfahren der 20.000 keltischen Söldner vom Stamm der Volcae, die 278 v. Chr. von König Nikomedes I. von Bithynien (nordwestliches Kleinasien) angeheuert wurden und dann in diesem Gebiet blieben und heute sich Türken nennen. Das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Volcaer vermutet man zwischen Rhein, Main und Leine sowie im Thüringer Wald. Übrigens, meine Vorfahren kommen allesamt aus diesem nordwestlichen Kleinasien.
In diesem geschichtsträchtigen Land gibt es aber einzelne völkische Ansichten, die anderen Völkern ihre Daseinsberechtigung absprechen. Erst kürzlich stieß ich beim Durchzappen auf eine ZDFinfo-Doku über die „Die Kurden – Unterdrückung, Terrorismus und Verrat“ und sah mir das an.
Es ist doch bemerkenswert, dass diese PKK-Kurden und Anhimmler von Abdullah Öcalan ein weites Gebiet als ihr angestammtes Gebiet betrachten, in der seit Jahrhunderten auch Armenier, Aramäer oder Juden beheimatet sind. Während diese Kulturen fortbestehen, meinen die PKK-Kurden doch tatsächlich, ihre Kultur trotz „Unterdrückung“ beibehalten zu wollen – wohlgemerkt auch in Deutschland als Deutscher Staatsbürger – und dabei in der Türkei wie Deutschland von „Assimilation“ sprechen. Angesichts dieser zwiespältigen Haltung prognostiziere ich für Deutschland eine Parallelgesellschaft: die der PKK-Kurden.
Aber zurück zur DNA-Analyse: Meine DNA teile ich laut dem Ergebnis mit 69,5 Prozent mit Westasiaten, mit 21,8 Prozent Südeuropäern (Griechen und Süditalienern), mit 5,2 Prozent mit aschkenasischen Juden, mit 1,9 Prozent mit Japanern bzw. Koreanern und mit 1,5 Prozent mit Indianern. Vermutlich werden einige Generationen später meine Gene durch die Nachkommen noch weitere mitteleuropäische Übereinstimmungen haben; osteuropäische Übereinstimmungen habe ich ja bereits im einstelligen Prozentbereich, vielleicht gerade wegen dieser Galater, vielleicht auch kurdische oder aramäische? Wer weiß!
Heute stehen Abertausende Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien vor den Toren Europas, wollen am Wohlstand teilhaben; wie einst die „barbarischen“ Vandalen, die über Frankreich, Spanien, Marokko, Algerien oder Libyen bis nach Rom marschierten oder Goten, die über die Donau in die römische Provinz Thrakien gelangten. Sie alle haben nicht nur ihre eigene DNA hinterlassen, sondern auch Bauten, Kunst und Kultur.
Heute ist Thrakien nach über 1600 Jahren erneut Schauplatz einer Völkerwanderung und in dieser Region will u.a. Griechenland ihre bereits bestehende Grenzmauer jetzt ins Meer erweitern. Über die Grenze zwischen der Türkei sowie Griechenland und Bulgaren wie auch über das Mittelmeer aus Algerien, Libyen oder Marokko, versuchen Abertausende Flüchtlinge Europa zu erreichen. Was vor 1600 Jahren Rom ereilte, kann gegenwärtig auf das heutige Europa übertragen werden, wenn Sie es nicht schafft, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. Denn, Europa behandelt das Flüchtlingsaufkommen vor ihren Toren wie eine vorübergehende und zu lösende Krise, so wie einst die Römer die Völkerwanderung.
Dabei stellt sich aber immer mehr heraus, dass Europa die sogenannte Krise keineswegs im Griff hat und nicht versteht, worum es sich dabei wirklich handelt und wie man ihr begegnen muss. Europäische Politiker und Regierende behandeln das Thema genauso dilettantisch wie einst die römischen Senatoren und Kaiser, aufgrund ihrer Dekadenz und Hochmut.
Dabei ist doch die Geschichte Roms, die Geschichten anderer Reiche und Imperien weitestgehend bekannt und sollte entsprechende Lösungen parat halten. Doch dem ist nicht so. Es stellt sich sogar heraus, dass die europäischen Staaten ihren nationalistischen Kitt wiederentdeckt haben, um sich aus dieser Krise ideologisch zu befreien. Die bislang hochgepriesenen und nur für sich in Anspruch genommenen universellen Werte, die europäische Werte, müssen dabei immer mehr zurücktreten.
Seit Jahrzehnten hat sich Europa in der Welt als demokratisches und soziales Wertesystem ausgegeben. Das hat Europa unter anderem nur geschafft, weil entgegen dem Selbstverständnis, die Ressourcen anderer Länder außerhalb Europas unfair herangezogen wurden und noch immer werden. Oder wie nennt man den Umstand, um mal ein Beispiel zu nennen, wenn gigantische europäische Trawler mit Schleppnetzen die nahe Westküste Afrikas leer Fischen und die Küstenbewohner vor Ort verhungern?
Mit dem Wohlstand stieg auch das Selbstbewusstsein. Während Europa sich stets als Industrieland sieht, sehen andere in ihr ein wiedererwachtes imperiales Gefüge, das ihre Ressourcen im Lichte der Entwicklungshilfe und Heranführung an europäische Werte ausbeutet, Regierungen aufstellt oder gewählte Regierungen stürzt, um den Einfluss und damit die Ressourcen zu sichern.
Deshalb können auch seltsame Konstellationen entstehen, die dieses Selbstverständnis Europas infrage stellen. Während ein Putschistengeneral aus Ägypten von Sozialisten, Grünen bis Christdemokraten mit allen Ehren in Berlin empfangen werden kann und darüber hinaus auch noch mit Preisen überhäuft wird, müssen gewählte Präsidenten sich den unermüdlichen Anfeindungen dieser Berliner Politiker stellen. Während man Griechenland und Italien mit ihrem Flüchtlingsaufkommen im Stich lässt, bekommen nichteuropäische Milizen und Regierungen die Hilfsgelder quasi ohne Schufa-Auskunft und mit Handkuss.
Dabei wird offenbar die Strategie verfolgt, die Krise zumindest vom Kerngebiet Europas fernzuhalten; was mal mehr, mal weniger gut gelingt. Die Flüchtlingsströme ebben damit aber nicht ab und somit auch nicht die Toten die unter anderem im Mittelmeer von europäischen Fregatten oder Küstenwachen herausgefischt werden. Wie dilettantisch Europa ihre Wohlstands- und Sicherheitspolitik verfolgt und dabei immer wieder mit ihren eigenen selbst bekundeten Werten kollidiert, erkennt man auch in anderen Regionen.
In Syrien hat Europa z.B. den Bürgerkrieg erst mit angestoßen, dann finanziert, um dann klammheimlich sich aus der Krise herauszuwinden, während es jetzt wieder Hilfe leistet aber ihrer Bevölkerung vorenthält. In Nordafrika hat man in gleich mehreren Ländern einen arabischen Frühling heraufbeschworen, um dann festzustellen, dass das völlig aus dem Ruder gerät. Nun versuchen manche europäischen Staaten, die Geschicke dieser nordafrikanischen Länder selbst zu lenken, darunter in Libyen und prompt stehen diese Europäer sich quasi gegenseitig auf den Füßen.
Zu allem Überfluss sollen für das dilatorische Vorgehen der europäischen Politiker und Regierenden laut manchen europäischen Kommentatoren andere geradestehen: der türkische Präsident Erdoğan und der russische Präsident Putin. Selbstverständlich sind die Flüchtlinge in Libyen oder in der Türkei für den einen oder anderen Präsidenten inzwischen eine Verhandlungsmasse, aber waren es nicht die Europäer, die diese Masse erst zugelassen, ja sogar tatkräftig mitgewirkt haben?
In Syrien setzte Europa ihren Plan, Baschar al-Assad zu stürzen, nicht konsequent um und in Libyen stürzte man planlos Muammar al-Gaddafi und hinterließ wie in Syrien ein Machtvakuum, das nun eine gewisse Generalität zusammen mit saudi-emiratischen-Petro-Dschihadisten mit aller Entschiedenheit ausfüllen will. Übrigens, dasselbe Machtvakuum die nach dem Lostreten des syrischen Bürgerkrieges in Nordsyrien auftrat, versucht man gegen Sicherheitsinteressen der Türkei seither mit der terroristisch eingestuften PKK auszufüllen, die sich mit US-Unterstützung spontan in eine Syrisch-Demokratische Armee verwandelt hat und seither von den Europäern geradezu gefördert wird.
Was die Europäer schon seit Jahrzehnten können, kann die Türkei, kann Russland auch, sagten sich wohl die zwei Präsidenten dieser Länder und sie tun es in einem Tempo, dass die Europäer von einer Schnappatmung in die andere treibt. Erdoğan hat sich unter anderem mit Libyen verständigt und somit die europäischen Pläne über die Gasvorkommen vor Zypern durchkreuzt; deshalb dreht man ja durch und ist quasi übertölpelt worden. In Somalia hat die Türkei inzwischen beide Füße drin, hat mit Nigeria Verträge abgeschlossen und fördert im Gegenzug die heimische Wirtschaft.
Erdoğan hat erkannt, dass der Zeitpunkt günstig ist, um Einfluss zu gewinnen, Macht zu demonstrieren und zu sichern, und damit die Türkei voranzubringen. Man mag mit den Methoden moralisch und ethisch betrachtet nicht konform sein oder kritisch beäugen, doch die Methode hat nicht Erdoğan erfunden, es ist die europäische Politik, die er wie die Europäer umsetzt. Es ist auch ein uralter Konflikt der Menschheit, denn es geht um Verteilungskämpfe, um Ressourcenknappheit auf der einen, um Ressourcenreichtum auf der anderen Seite.
Die Ausübung von Macht und Einfluss beherrschen Nationen auf aller Welt seit Anbeginn der Gemeinschaftsbildung; und sie sind dazu verdammt, den Wohlstand zu mehren und die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sichern; es ist eine Spirale die letztendlich in Konflikten mündet. Als in den Wirren des Nahen Ostens Israel während der ägyptischen Ära unter Gamal Abdel Nasser und Anwar as-Sadat, in Somalia im geheimen eine somalische Truppe aufbaute, waren die nicht dazu bestimmt, die Sicherheit Somalias zu gewährleisten, sondern die israelischen Interessen gegen Ägypten durchzusetzen.
Israel beschäftigte mit diesem Plan Ägypten im Rücken sprichwörtlich mit einem somalischen Bürgerkrieg. Es gibt unzählige Beispiele, in denen europäische Länder oder vor allem die USA nicht anders agierten. Muss man Israel dafür kritisieren? Man kann, aber zeitgleich ist man selbst im Fadenkreuz. Es geht schlussendlich um einen jeden selbst, darum wo man bleibt. Wer stark ist, hat Macht und kann sie durchsetzen, wer keine Macht hat, der ist verloren und braucht erst gar nicht herumjammern, denn die Geschichte wurde immer von starken Mächten geschrieben.
Wie ist es aber nun mit den europäischen Werten vereinbar, wenn manche europäische Kommentatoren die EU auffordern, in Libyen beherzt einzugreifen? Wieso sind die Grünen nun doch für einen Bundeswehreinsatz in Libyen offen, die die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zuerst vorschlug und dafür ihrerseits erst harsche Kritik erntete, während in Syrien Tornados lediglich Safari-Ausflüge absolvieren?
Den europäischen Kommentatoren oder den Politikern geht es im Kern nicht um die Sicherheit der Menschen in Libyen, sondern um ein stabiles Land, aus der kein Flüchtling den Weg nach Europa antreten kann und damit einen inneren Verteilungskampf entfesselt. Nur, dass selbst verklärte humanistische Europa kann die Mauer noch so hoch bauen, letztendlich werden die Abertausenden, nach Ressourcen und Wohlstand lechzenden Flüchtlinge, die moralisch betrachtet menschenverachtende Hürde überwinden. Erdoğan und jede andere Partei, die von Europa für die Zurückdrängung der Flüchtlinge Hilfsgelder erhalten, haben diesem Geschäft bzw. Deal nur zugestimmt; weil es ihnen sozusagen vorgetragen, schmackhaft gemacht wurde.
Wer jetzt aufgrund dessen den moralischen Finger erhebt, hat offenbar auch dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge auch bei ihm unterkommen und willkommen geheißen werden. Wenn nicht, sollten diese den Finger schleunigst wieder einstecken und zuschauen, dass dieses europäische System aufrechterhalten wird. Alles andere wäre unglaubwürdig und heuchlerisch.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Auch interessant
– Justiz –
Türkei: 10 Jahre Haft für verurteilte Hundemörder
Ein Gericht in der Türkei hat drei Männer wegen der Vergiftung von Straßenhunden zu je zehn Jahren Haft verurteilt.