Start Politik Ausland Gastkommentar Thomas: Israel befindet sich in einer desaströsen Lage

Gastkommentar
Thomas: Israel befindet sich in einer desaströsen Lage

Thomas: "An der allgemein desaströsen Lage, in der sich Israel befindet, kann kein Zweifel mehr bestehen. Und das Land steuert noch immer tiefer in den Abgrund."

(Foto: pixa)
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Ein Gastkommentar von Michael Thomas

An der allgemein desaströsen Lage, in der sich Israel befindet, kann kein Zweifel mehr bestehen. Und das Land steuert noch immer tiefer in den Abgrund. Nicht erst mit dem Vernichtungskrieg gegen Gaza, sondern schon Jahre zuvor hat es einen Weg eingeschlagen, der niemals zu einem Erfolg führen konnte. Jetzt aber riskiert Israel alles, was die Welt für die Sicherheit der Juden zur Verfügung gestellt hatte und wird zu einem Pariastaat. Wie konnte es soweit kommen?

Betrachten wir die Lage in Gaza.

Wie David Hearst in MiddleEastEye (MEE) schreibt (1), besteht für Israel keinerlei Hoffnung, irgendeines seiner Kriegsziele zu erreichen. Ausschließlich nur in den zwei zurückliegenden Monaten, in denen die israelische Armee Khan Younis bombardierte, konnte die Hamas wegen der recht hohen Ausfallquoten bei den Bomben etwa fünf Tonnen Sprengstoff aus den Blindgängern bergen.

Zudem laufen ihr aufgrund der völligen Verzweiflung und anwachsenden Wut Leute in Scharen zu, die ihre angeblich nur noch vier Bataillone mit höchstmotivierten Kämpfern verstärken. Die Rede ist von Zehntausenden. Und richtig genug registriert Al-Jazeera, dass die israelischen Soldaten in Gaza in schwere Kämpfe verwickelt sind. (2)

Hearst zitiert Reserve-Generalmajor Yitzhak Barik, der sagt, dass Benjamin Netanyahus über die völlig festgefahrene, militärische Situation sehr wohl informiert ist. Die israelische Armee kann nicht überall präsent sein. Wenn sie sich jedoch von einem als gesichert angenommenen Punkt fortbewegt, wird dieser unverzüglich von der Hamas erneut übernommen und kontrolliert. Nichts funktioniert. Auch der Vorstoß, Clanführer von Stämmen in Gaza dazu zu bewegen, die Region unter sich aufzuteilen um Spannungen im Innern zu erzeugen, schlug fehl.

Aber Gaza ist nicht der einzige Punkt, der die israelische Armee zur Gänze stresst. Denn sie hat auch die zwischenzeitlich völlig außer Kontrolle geratenen „Siedler“ im Westjordanland zu beschützen, die eine Vielzahl von Konfliktherden schaffen. Die Notwendigkeit, ein Zurückschlagen der palästinensischen Bevölkerung dort zu verhindern, bindet nicht unwesentliche Kräfte der Armee. Hinzu kommt die Grenze zum Libanon, an der es nun beinahe täglich zu Schusswechseln und Raketenstarts kommt und ebenfalls von der israelischen Armee überwacht und gesichert werden muss.

Insgesamt betrachtet hat auch die israelische Reaktion auf den Start von beinahe dreihundert Raketen aus dem Iran die begrenzten Möglichkeiten der israelischen Armee aufgezeigt: ohne massive Unterstützung von jordanischen, US- und französischen Abwehrsystemen wäre die Zerstörung in Israel selbst katastrophal ausgefallen und hätte zu dramatischen Verlusten geführt. Israel allein wäre kaum in der Lage dazu gewesen, den Schwarm anliegender Raketen und Drohnen abzufangen. Und ob selbst diese Unterstützung ohne die iranische Vorankündigung, die den Verbündeten Zeit genug für Vorbereitungen gelassen hatten, wirksam gewesen wäre, ist zweifelhaft.

Doch auch die Lage in Israel selbst ist völlig unübersichtlich. Während sich um Einav Zangauker, die Mutter einer Geisel, die sich in Händen der Hamas befindet, eine größere Gruppe namens „Frauenmarsch“ gebildet hat, scheinen sich derzeit nach Angaben der „Times of Israel“ (3) nur 56 Prozent der Israelis für die Annahme eines Waffenstillstandsdeals auszusprechen. Allerdings zeigt sich die genannte Gruppe offenbar überaus entschlossen und gab an, von sich aus Kontakte mit dem Ausland mit Dem Inhalt aufgenommen haben zu wollen, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, den von der Hamas bereits akzeptierten Deal endlich anzunehmen.

Verlässliche Daten und Stimmungsbilder sind aufgrund der vielfältigen Art von Verboten gegen die freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht nur schwer zu erhalten. Allerdings zeigten entsprechende Umfragen noch vor dem Krieg, dass mit knapp siebzig Prozent eine Mehrheit der Israelis für den konservativ-zionistischen Kurs ihrer Regierung votieren, der auch für den Fall, dass Netanyahu stürzen sollte, beibehalten werden soll. Eine klar erkennbare Mehrheit spricht sich für die totale, wenn auch illegale, Übernahme des Westjordanlandes und Gazas aus.

Was kaum Beachtung findet ist die bedenklich schwierige, wirtschaftliche Lage Israels. In den letzten Monaten brachen viele Geschäftskontakte ab, gerade das Flaggschiff Israels, der Sicherheitskonzern Elbit Systems, hat mit dem erzwungenen Verkauf eines Standortes in England einen herben Rückschlag erlitten. (4) Trotzdem scheinen seine Geschäfte zu florieren.

Allerdings steht die israelische Wirtschaft dennoch unter einem hohen Druck, da die einberufenen Reservisten keine Steuereinnahmen mehr generieren, aber ausgerüstet und transportiert werden müssen. Die vorher geleistete Rückstellung in Höhe von etwa zweihundert Millionen Dollar war schnell aufgebraucht, mittlerweile belasten Kosten von etwa zwanzig Milliarden Dollar die Staatskasse. (5) Dieser immense Kostendruck wird sich schnell bemerkbar machen.

Nachdem die Ratingagentur Fitch ihre Bewertung der Kreditwürdigkeit Israels im Februar auf „negativ“ herabstufte, hievte sie diese später wieder auf „A+“ mit allerdings negativer Anmerkung wieder hoch. Die Agentur Moody’s hingegen verharrt auf ihrer negativen Bewertung (6). Dies verteuert die Kreditaufnahme Israels auf dem Weltfinanzmarkt erheblich.

Alles in allem zeigt sich, dass sich die Aussichten Israels im Innern ganz erheblich mit jedem weiteren Kriegstag verschlechtern. Neben der militärischen Abnutzung und Ermüdung werden wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten dramatisch zunehmen. Schon jetzt hat ein hoher Militär die dringliche Empfehlung abgegeben, Soldaten zu Kampfpausen abzuordnen, damit sie die Arbeit wieder aufnehmen können. Internationale Ketten wie KFC und Starbucks etwa erleiden durch Boykotte wegen ihrer Unterstützung Israels herbe Verluste.

International steigt die Notwendigkeit Israels Unterstützer, entweder zu immer härteren Maßnahmen gegen die aufsteigende Kritik zu greifen, oder Israel zum Niederlegen der Waffen zu zwingen. Auf welchem Wege auch immer.

Sehr klar scheint, dass der US-Präsident Joe Biden massiv Gefahr läuft, seine Wiederwahl wegen Gaza zu verlieren. Ob der Druck, ihn zur Vermeidung der Wahl Donald Trumps zu wählen, ausreicht, ist von Tag zu Tag fraglicher. Die zuweilen brutalen Maßnahmen, mit denen seine Regierung derzeit versucht, Proteste allgemein und die Camps an den Universitäten aufzulösen, verkehren sich ins Gegenteil. Sie erzeugen erheblich mehr Kritik an seiner Regierung und wecken neue Proteste gegen Israel, als sie verhindern. Ganze muslimische Communitys verweigern Biden ihre Stimme.

Auch Deutschland hat sich dramatisch verrannt. Seinen vermeidbarsten, eklatantesten und entlarvendsten Fehler hat es begangen, als es den ehemaligen, griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis mit einem Einreise- und Redeverbot wegen seiner geplanten Rede vor dem Palästinakongress überzog.

Gerade an diesem Vorgehen, wie auch an dem gegen Dr. Ghassan Abu Sittah, den das gleiche traf, erkennt die Welt, wie weit Deutschland auf seinem Weg, Israels Vorgehen zu beschützen, gehen will. Varoufakis Fragen an die deutschen Behörden, aus welchem Grunde diese Verbote gegen ihn verhängt wurden, sind unter dem Hinweis auf „nationale Sicherheit“ ignoriert worden, weshalb er nun eine Klage gegen Deutschland anstrengt (7).

Da die Proteste in allen europäischen Ländern gegen Israel dramatisch zunehmen und zwischenzeitlich Millionen auf die Straße bringen, nimmt der Druck auf ihre Regierungen deutlich zu.

Flankiert wird die Szenerie von mehreren, sowohl vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) als auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Israel und seine unterstützenden Staaten angestrengten Verfahren.

Zahlreiche europäische Staaten wie Irland, Belgien, Malta, Spanien und Slowenien werden in Kürze Palästina als Staat offiziell anerkennen, weitere haben angekündigt, dies ebenfalls zu tun. Dies wird die EU dazu zwingen, sich mit dem Thema öffentlich auseinanderzusetzen und zu einer Entscheidung zu gelangen. Erst am siebten Mai stellte Joseph Borrell, der Außenbeauftragte der EU völlig ernüchtert und lapidar fest, dass Israel noch erheblich mehr Zivilisten töten werde und sich nicht darum schere, dass zahlreiche Staaten die Offensive in Rafah ablehnen (8).

Auch auf dieser Ebene wird der Druck auf die Unterstützer wie Deutschland, Frankreich und England neben den anwachsenden Protesten auf ihren Straßen noch zusätzlich gesteigert, da selbst die UN in ihrer jüngsten Generalversammlung in überwältigender Mehrheit dafür gestimmt hat, Palästina weitaus mehr Rechte als Mitgliedsstaat gewähren zu wollen, damit es den Status als bisheriger Beobachterstaat in Richtung einer regulären Mitgliedschaft mit vollen Stimmrechten verlassen kann.

All das zeigt überzeugend, dass sowohl Israel, als auch seine unterstützenden „Freunde“ den Krieg um Definitionen, um Bilder, um Informationen und die Wahrnehmung seines Tuns vollständig verloren haben. Sie befinden sich auf dem Weg in eine Isolierung. Das Massaker in Gaza und im Westjordanland wird von der Welt jeden Tag klarer als das gesehen, was es tatsächlich ist – nämlich nicht die „Verteidigung eines Opfers“, sondern als ein imperialistischer Krieg mit genozidalen Zügen eines brutalen Angreifers, der zudem für den Aggressor tatsächlich ungewinnbar ist und eine furchtbare Zukunft für sich nach sich ziehen wird.

Denn schon jetzt zeigt sich deutlich, dass die Juden der Welt nach den Palästinensern die Hauptleidtragenden sind, weil ihnen zunehmend Hass und Verachtung entgegenschlägt. Denn die Politik der Unterstützer Israels ignoriert und erstickt die vielen Hunderttausend Stimmen von Juden, die sich lautstark gegen das Handeln Israels empören und weltweit rufen „Not in our name!“. Israel will sie mit der Hilfe seiner „Freunde“ zu Geiseln seiner Politik machen und setzt sie damit großen Gefahren durch Menschen aus, die israelisches mit jüdischem Handeln verwechseln und vermischen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Autor 

Michael Thomas ist Privatier, Fotograf, leidenschaftlich an Ägyptologie und Literatur interessiert, mit der er vor vielen Jahren als Autor regional einige Beachtung fand. Er verfolgt interessiert das Weltgeschehen durch Beobachtung internationaler Presse. Seinen Fokus legt er insbesondere auf die Palästinafrage und auf die islamische Welt.

  1. https://www.middleeasteye.net/opinion/rafah-attack-defeat-sight-how-can-netanyahu-declare-victory
  2. https://www.aljazeera.com/news/2024/5/7/israel-takes-control-of-rafah-crossing-gazas-lifeline-whats-going-on
  3. https://www.timesofisrael.com/protesters-briefly-block-tel-aviv-highway-to-demand-deal-freeing-hostages-in-gaza/
  4. https://www.aa.com.tr/en/europe/israeli-arms-company-elbit-forced-to-sell-tamworth-factory-in-uk/3177877#
  5. https://www.fr.de/politik/israel-krieg-gaza-bodenoffensive-kosten-armee-nahost-konflikt-palaestinenser-zr-92754356.html
  6. https://www.moodys.com/credit-ratings/Israel-Government-of-credit-rating-423305
  7. https://diem25.org/yanis-varoufakis-sues-the-german-state/
  8. https://www.reuters.com/world/middle-east/more-civilians-will-be-killed-israels-rafah-offensive-whatever-they-say-eus-2024-05-07/