Ein Gastbeitrag von Akin Kara
155 Tage sind vergangen, dass Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. 155 Tage hat man im Westen beharrlich die Kriegstrommel der Ukraine mit angeklungen, um jetzt, nach Tausenden Toten und Verletzten, hinter vorgehaltener Hand sich langsam einzugestehen, dass das offenbar nicht die beste Taktik war.
Deutschland genauso unentschlossen
Man erkennt in der deutschen Außenpolitik einen verkehrten Altruismus, die stur und steif auf etwas beharrt, was absolut zu keinem Ergebnis führt, eher das Gegenteil bewirkt; vor allem im Ukraine-Krieg. Und dennoch, schon lange ist ein Bruch in der Koalitionsregierung zu spüren, in der die SPD bremst, die Grünen weiterhin auf Krawall gebürstet sind und die FDP sich bedeckt hält.
Der „Kriegsverbrecher“ in Russland, der derzeit Europa vorführt, weis das. Dennoch und gerade deshalb lässt sich Wladimir Putin trotz NATO-Mitgliedschaft von einem türkischen Präsidenten anfassen und zu Zugeständnissen ein, während die europäische Medienlandschaft laut aufseufzt und darin einen Verrat riecht.
Die Wende im Ukraine-Krieg?
Langsam erkennen aber manche, die vor 154 Tagen noch echte Pazifisten und einen Tag später auf Krawall gebürstet waren, das Dilemma in der sie eigentlich stecken. Die Vorstellung, dass sich die Ukraine als militärischer Sieger an den Verhandlungstisch setzen kann, war von vornherein eine Illusion. Und so lange das Sanktionsregime nur von einer Handvoll Staaten auf der Welt mitgetragen wird, kann man Moskau schlichtweg nicht in die Knie zwingen.
Zum einen: je länger dieser Krieg dauert, desto mehr Zeit hat Putin, Russlands Abhängigkeiten zu diversifizieren. Das einzige, wovon man Russland dauerhaft abschneiden kann, ist westliches Luxus-Spielzeug. Dann müssen reichere Russen halt wieder Lada statt Mercedes fahren. Nur sollte man nicht vergessen, dass die Russen – anders als die West-Europäer – Entbehrungen gewöhnt sind.
Können Europäer das aushalten?
Wie lange kann Europa vieles von dem entbehren, was sie seit Jahrzehnten gewöhnt sind, fragt Cem Özgönül, deutsch-türkischer Publizist und Historiker. Es gibt inzwischen starke Anzeichen dafür, dass Putin diesen Krieg systematisch in die Länge zieht. Dies ist ein hybrider Krieg, in dem es schon längst nicht mehr um die Ukraine geht. Russen und Chinesen wollen eine neue Ordnung. Sie haben den „globalen Süden“ weitestgehend auf ihrer Seite.
Eigentlich läuft hier gerade ein hybrider, verkappter, postmoderner Weltkrieg. Putin weiß, dass vor allem die Europäer mit den Sanktionen auch sich selber schwächen. Und darauf baut er auf. Je länger es dauert, desto schwieriger wird es, die ohnehin löchrige Front gegen ihn zusammenzuhalten. Im ungünstigsten Fall werden schwere soziale Verwerfungen zu politischer Instabilität in diversen europäischen Staaten extremistische politische Bewegungen nach oben spülen.
Es hält sich bspw. hartnäckig das Gerücht, dass Moskau seine Finger beim Sturz des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi in Rom im Spiel hatte. Putin hat „fünfte Kolonnen“ auch in Deutschland oder in Frankreich. Diese Gemengelage hat das Zeug, die EU selbst zu sprengen.
Sanktionen verpuffen
Zum anderen: Die Geschichte zeigt, dass Sanktionen gegen Staaten, in denen es nur schwache plebiszitäre Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse gibt, wirkungslos verpuffen. Kuba, Iran, Nordkorea: Staaten, die seit Jahrzehnten formell wie auch informell mal weniger, mal stärker sanktioniert werden. Mit welchem Ergebnis?
Wohlgemerkt: im Vergleich zu Russland relative Leichtgewichte, die man bislang sanktionieren konnte, ohne sich selbst zu schaden. Und jetzt will man den Menschen allen Ernstes weis machen, dass ein Riesenland, das von der Ostsee bis zum Pazifik reicht, Rohstoffe noch und nöcher hat, energiepolitisch autark ist; das in allerletzter Not technologisch auf ein alternatives, auf zähe Robustheit ausgelegtes schwerindustrielles Backup-System aus sowjetischer Ära zurückgreifen könnte; das Indien, China, Teile Lateinamerikas und weite Teile Afrikas hinter sich weiß; und selbst von diversen westlichen und EU-Staaten mehr oder weniger offen unterstützt wird – siehe Griechenland, Israel, Ungarn oder die Türkei – von dem man selber mindestens so abhängig ist, wie umgekehrt, wenn nicht gar stärker.
Von der Abhängigkeit zu China, mit dem man sich gerade parallel angelegt hat, ganz zu schweigen – jetzt will man den Menschen weiterhin erzählen, dass man einen solchen Gegner mit Sanktionen in die Knie zwingen kann? Cem Özgönül würde sagen: Geht noch ein bisschen an Nordkorea üben.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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