Start Politik Ausland Gastkommentar Türkei – Wer hat den Putschversuch zu verantworten?

Gastkommentar
Türkei – Wer hat den Putschversuch zu verantworten?

Auch 7 Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sucht die Opposition mit vagen Formulierungen bis hin zu Verschwörungstheorien einen Schuldigen.

Der Putschversuch in der Türkei 2016 in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 war ein gescheiterter Putsch von Teilen des türkischen Militärs, der zum Ziel hatte, die türkische Regierung mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und dem Kabinett Yıldırım zu stürzen.
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Auch 7 Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sucht die Opposition mit vagen Formulierungen bis hin zu Verschwörungstheorien einen Schuldigen – und die sitzt zumeist innerhalb der Regierungspartei AKP.

Drückt sich etwa die Opposition vor der eigenen Verantwortung in Zusammenhang mit dem Gülen-Netzwerk, oder wie man in der Türkei diese Organisation nun seit dem 15. Juli 2016 nennt, FETÖ?

Mit einem Tweet hatte der Oppositionsführer der Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, am Jahrestag des gewaltsamen und blutigen Putschversuchs erneut für viel Diskussionsstoff gesorgt.

Verschwörungstheorie?

Kemal Kılıçdaroğlu twitterte am sechsten Jahrestag des gescheiterten Putschversuchs sinngemäß, dass die vaterländischen Verräter einer Terrororganisation ihre Waffen gegen das Volk gerichtet hätten.

Er gedenke der 251 Märtyrer und bedanke sich bei den Veteranen. Kılıçdaroğlu zufolge dürfe man sich nicht nur am Ergebnis selbst orientieren, sondern auch die Vorstufe dessen in Augenschein nehmen, um dessen Verantwortlichen mit in Rechenschaft zu ziehen und damit letztendlich Recht zu sprechen.

Damit befeuert Kemal Kılıçdaroğlu erneut die Frage, wer diesen „vaterländischen Verrätern“ zu dieser ungeheuerlichen Macht verholfen hat und zeigt dabei wieder einmal auf die Regierungspartei AKP, ohne dabei diese Verräter beim Namen zu nennen.

Screenshot/Twitter

Kampf gegen das Gülen-Netzwerk

Zunächst einmal muss Kılıçdaroğlu diese Terrororganisation endlich beim Namen nennen; ob nun die PKK, die FETÖ oder der IS. Dann muss er selbst aufpassen, wen er in diesem Zusammenhang in Regress nimmt.

War er nicht persönlich in der Putschnacht im von Putschisten belagertem Istanbuler Atatürk-Flughafen und spazierte zwischen Putschisten und deren Panzern und Mannschaftstransportern seelenruhig hinaus, um anschließend im Haus des Bürgermeisters von Bakırköy als Gast sich auf dem Sessel breitzumachen und mit Schwarztee verköstigt zu werden?

Erklärte er nur wenige Tage danach vor der versammelten Parteifraktion etwa nicht, mit allen zusammen (Opposition und Koalition) gegen den Putsch aufgestanden, gegen die Putschisten vorgegangen zu sein?

Kılıçdaroğlu spazierte in dieser Nacht aus dem Atatürk-Flughafen, ohne einem der anwesenden Putschisten auch nur die Stimme, geschweige denn den Finger zu erheben. Danach erklärte er quasi den Schulterschluss mit der Regierungskoalition, um nur wenige Tage später all das umzukehren, in dem er Theorien in die Welt setzte, die bis heute nicht abebben.

Kann man mit dieser eindrucksvollen Wandlung andere beschuldigen, nichts getan, weggeguckt oder aber diesem Ereignis bereits in der Vergangenheit den Boden geebnet zu haben?

Das wirft auf der anderen Seite die Frage auf, weshalb jene – also die AKP bzw. Erdogan, die jetzt von Kılıçdaroğlu für den gescheiterten Putschversuch in Regress genommen werden, Erzfeinde der Gülen-Sekte bzw. der FETÖ sind – noch vor dem gescheiterten Putschversuch und jetzt erst recht. Standen nicht etwa vorrangig AKP- bzw. MHP-Politiker, deren Aktivisten oder lokale Funktionsträger in Todeslisten der FETÖ? War der türkische Präsident Erdogan Monate, ja Jahre vor der Putschnacht etwa nicht zum Hassobjekt der Gülen-Sekte mutiert, suchten in der Putschnacht keine Spezialeinheiten der Putschisten ihn im Sommerurlaub auf?

Erklärte der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ während eines Forums des Rotary Clubs kurz nach dem gescheiterten Putschversuch etwa nicht, Erdogan habe nach 2012 den Kampf gegen die FETÖ allein geführt; er sei ganz allein gewesen; er sei in manchen problematischen Fragen im Stich gelassen worden?

Und eine weitere Frage tut sich unweigerlich auf: warum Kılıçdaroğlu seinen Standpunkt wenige Tage nach der Putschnacht verändert und welche Seite er damit im Grunde seither bedient. Das alles würgt doch im Grunde nur die Debatte darüber ab, ob die Opposition eine gewisse Mitverantwortung trägt, ob sie ebenfalls Leichen im Keller hat. Und, Kılıçdaroğlu bedient damit Verschwörungstheoretiker, die schon längst die Schuldigen ausgemacht haben.

Aufarbeitung

Der Putschversuch war kein singuläres Ereignis, sondern die letzte Stufe eines sich über Dekaden erstreckenden Machtwachstums des Gülen-Netzwerks, die anschließend über mehrere Jahre hinziehenden Eskalation zwischen Erdogan und dem Gülen-Netzwerk sowie dessen Strippenziehern in Washington. Das Gülen-Netzwerk etablierte sich nicht erst mit Erdogan oder der AKP, sondern hatte schon weit davor eine gewisse Machtstruktur aufgebaut, die mit Fethullah Gülens Wirken seit den 1960’er Jahren einherging. Fethullah Gülen verließ aufgrund dessen ja auch das Land im Jahre 1999 – also noch vor der Ära Erdogans oder der AKP und lebt seither in den USA.

In diesem Zusammenhang ist es von Vorteil, sich chronologisch vorzuarbeiten und die Ereignisse in diesem Licht zu betrachten. So muss sich die Opposition doch die Frage erlauben lassen, weshalb sie z.B. bei den Zwangsschließungen von Lichthäusern, Medien wie der ZAMAN oder Schulen des Gülen-Netzwerks die Proteste der Anhänger mit befeuert hat, die Verordnungen der Regierung hierzu scharf verurteilten und den Streit bis ins Parlament trugen. Diese Ereignisse lagen ja noch Monate, ja Jahre vor dem gescheiterten Putschversuch zurück.

Erdogan hat also viel früher mit dem Gülen-Netzwerk gebrochen als diverse andere Akteure in Politik und Wirtschaft in der Türkei. Viele derer, die heute auf Erdogan und die AKP zeigen, haben bislang überhaupt keine Aufarbeitung ihrer eigenen Verwicklungen und Mitwirkungen zu Fethullah Gülen vorgenommen.

Die Opposition verschleppt im Grunde die eigene Verantwortung, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Ist das etwa dienlich, im Kampf gegen ein Netzwerk, dass sich in der Türkei eine Parallelmacht aufgebaut hat und bis heute vereinzelt immer noch schlummert?

Das bedeutet nicht, dass man damit Erdogan einen Persilschein attestiert. Es ist offensichtlich, dass da noch diverse kompromittierenden Leichen in den Kellern der AKP oder aber auch der Koalitionspartei MHP liegen. Das wird wohl auch der Grund für die Weigerung der Regierung sein, etwaige Untersuchungsausschüsse zu berufen. Nichtsdestoweniger dürfte die AKP jene Partei im Establishment sein, die ihren politischen Reinigungsprozess am weitesten vorangetrieben hat, auch wenn das augenscheinlich nicht bemerkt werden will.

Letztendlich stellt sich die Frage überhaupt nicht, wer für den Putschversuch verantwortlich ist. Es sind jene die ihre Waffen gegen das eigene Volk gerichtet und abgedrückt haben.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar


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