von Klaus Jürgens
Während so manch ein anderes europäisches Land nach wie vor mit dem ‚neuen Normal‘ nicht zurechtkommt, hat Türkiye von Anfang an eine weitaus bevölkerungsfreundlichere Pandemiestrategie eingeschlagen. Als ermutigender Vergleichswert kann fast nur Schweden herangezogen werden – keine Panikmache, sondern Realpolitik. Eben wie in Türkiye.
Deshalb verwundert es Besucher und Beobachter auch überhaupt nicht, dass letzte Woche vom 23. bis zum 27. März Hunderttausende Menschen aus Nah und Fern an der 10. Auflage des mittlerweile weltberühmten Orangenblüten-Carnival in Adana teilnahmen.
Für alle unsere verehrten Leserinnen und Leser, die noch keine Chance hatten mitzufeiern sei hier kurz zusammengefasst, worum es sich eigentlich handelt:
Über 100 Veranstaltungen inklusive Ausstellungen von lokal und national bekannten Künstlern, Pop- und klassische Musikkonzerte, ein Tennistournier, ein Pferderennen, Bootsfahrten, Kochwettbewerbe, Probierstände feinster Adana-Küche… Autoren signieren ihre Werke, junge Bürgerinnen und Bürger fertigen bunte Kostüme an… es würde wohl besser zutreffen von einem Mega-Festival zu sprechen anstatt ‚nur‘ von einem Straßen-Carnival.
Das Event, das seit 2013 nicht nur in Adana, sondern auch in anderen Städten der Region den Weg für eine wirtschaftliche Belebung geebnet hat, habe der Stadt in einem Zeitraum von 10 Jahren etwa 1,5 Mrd. TL (c.a. 93 Mio.€) eingebracht. Es wird erwartet, dass der Karneval, der aufgrund der Pandemie in den letzten zwei Jahren online abgehalten wurde, allein in diesem Jahr 350 Millionen TL einbringen wird.
Aber der eigentliche Straßen-Carnival hat es in der Tat in sich: für viele Monate in Vorbereitung ziehen Traktor nach Traktor mit Anhänger durch die gesamte orangefarben geschmückte Innenstadt. Musikgruppen, Bands, Schulen, Universität, Nichtregierungsorganisationen, Vereine, Clubs, Motorradfans, Oldtimerfans, Stadtverwaltung, andere Behörden, die Polizei… und natürlich diese wunderschönen Kostüme überall und sehr oft mit dem ‚Orangen-Motiv‘ versehen. Man denkt für einen ganzen Nachmittag man weilt in Rio de Janeiro, aber warum wollte man Adana mit dieser ebenso feierlustigen Metropole überhaupt eintauschen!
2013 geboren – aber fast hätte es Adana 2014 nie gegeben
Ali Haydar Bozkurt gilt in Adana als der Vater des Carnival – war es doch seine unermüdliche Lobbytätigkeit solch eine Riesenveranstaltung aus dem Hut zu ziehen. Wir trafen uns bereits im 2. Jahr des Carnival und Ali Bey sagte mir, er sei sich nicht sicher, ob er genügend Sponsoren für zukünftige Events finden würde. Bitte verstehen Sie seine Besorgnis nicht falsch – es ging niemals um Produktwerbung oder gar Eigenwerbung, Bozkurt ist nicht zuletzt CEO von Toyota Türkiye. Aber damals genau wie heute sitzt Geld für die Unterstützung von Bürgerinitiativen leider nicht locker, es braucht Willen und Überzeugungskraft überall in Europa.
Aber Bozkurt und sein Adana-Familienhintergrund schafften es: der Bürgermeister kam mit an Bord, und der Gouverneur. Dann die Geschäftswelt der stolzen, aufstrebenden Stadt im Süden von Türkiye. Dann die ganze Region, dann das ganze Land. Und Jahr über Jahr wurde der Carnival auch außerhalb der Grenzen Türkiyes ein Name für Erfolg und Gute Laune – immer mehr Staaten schickten offizielle Delegationen wie zum Beispiel Musikgruppen, immer mehr Botschaften nahmen teil, und immer mehr internationale Touristinnen und Touristen packten ihre Zahnbürste und buchten ihr Flugticket nach ADA, das IATA-Kürzel für Adanas Flughafen gerade einmal 15 Minuten vom Zentrum entfernt.
Dieses Jahr und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, trafen wir u.a. Menschen aus den Philippinen, Vietnam, Ungarn, Pakistan und Japan. Viele weitere Staaten waren vertreten. Der Carnival wurde somit von Jahr zu Jahr nicht nur multikultureller, sondern internationaler, eine Veranstaltung mit weltweitem Anspruch und Ruf. In diesem Zusammenhang müssen wir festhalten, dass bereits im Jahr 2018 der Adana Carnival seinen berechtigten Platz in der globalen Top 20 bezüglich Mega-Festivals gefunden hatte und sich leicht mit dem Münchner Oktoberfest vergleichen ließ.
Carnival Trend Slow Food
Dieses Jahr nahm als eine der unzähligen Vertreter Adanas auch die Slow Food Community teil. Diese weltweit operierende Nichtregierungsorganisation ist mittlerweile in 160 Ländern aktiv und Teil der 31 lokalen Gruppierungen in Türkiye. Was in Italien seinen Ursprung nahm wurde schnell zum Vorreiter wie wir ‚Essen‘ neu definieren und verstehen.
Jeder Bestandteil eines Gerichtes sollte die vier Jahreszeiten in Betracht ziehen und vor allem auf regional vorzufindende Produkte zurückgreifen. Aber nicht nur unsere Gaumenfreuden sind wichtig: der Bewegung geht es auch darum, dass Landwirte und Produzenten einen fairen Verkaufspreis erzielen können.
Nun stellen Sie sich bitte vor, dass all dies selbstredend mit einem Orangenthema verknüpft werden muss, um im Rahmen des Carnival zu bleiben – endlose Möglichkeiten, eigentlich könnten wir von einer Nouvelle Orangen Cuisine Made in Adana sprechen.
Die Nachhaltigkeit ist gesichert
Gibt es logistische Begrenzungen für zukünftige Carnival? Natürlich gibt es Hotelzimmerkapazitäten, und Flug- und Buskapazitäten, die auch im Interesse eines umweltfreundlichen Carnival nicht in den Himmel anwachsen sollten. Aber wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass die Veranstalter in der Vergangenheit bereits einmal die magische 1-Millionen-Teilnehmerzahl überschritten (auf die gesamten fünf Tage und alle Veranstaltungen, nicht nur die Parade bezogen) scheint Nachhaltigkeit gesichert. Wie sagt man hier, ‚Nisan‘da, Adana’da‘ oder frei übersetzt, wenn es April wird, sollte man in Adana weilen.
Klaus Jürgens – London School of Economics Postgraduate Degree Government. Vormals Uni-Dozent Ankara, Schwerpunkt BWL und KMU. Über zehn Jahre vor Ort Erfahrung Türkei. Zur Zeit wohnhaft in Wien. Politischer Analyst und freiberuflicher Journalist bei TRT World.
Zum Thema
– Türkei –
Adana-Festival bricht Besucherrekorde
Eigentlich ist es ja vom offiziellen Titel her ein Karneval: Der sechste Internationale Orangenblüten-Karneval fand gerade im türkischen Adana statt. Aufgrund der sensationellen Besucherzahlen darf man ihn aber durchaus in die Kategorie Festival einreihen, oder noch besser: in die Elite-Klasse der Mega-Events.