Gaziantep (tp/nex) – Laut übereinstimmenden Berichten arabischer und jordanischer Online-Nachrichtenportale gelingt es immer mehr Flüchtlingen in die von der Türkei und ihren Verbündeten Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrollieren nordsyrischen Region Afrin trotz Hindernissen zu erreichen.
Rund 200 Familien kehrten allein zwischen Montag und Mittwoch in die ehemals von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehaltene Region Afrin im Nordwesten Syriens zurück. Lokale Beobachter und Rebellensprecher erklärten gegenüber Syria Direct, dass die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge durch bewaffnete Milizen der Volksverteidigungskräfte (YPG) eingeschränkt würde. Zudem gebe es eine „monetäre Ausbeutung“ durch die YPG, was die rückkehrwilligen Flüchtlinge belaste.
Dem jordanischen Online-Nachrichtenportal Syria Direct zufolge, erreichten laut Angaben des Pressesprechers des Regionalrates von Afrin, Azad Osman, allein zwischen Montag und Mittwoch 200 Familien die Region Afrin. Die zurückkehrenden Bewohner von Afrin sollen zu Fuß, mit dem Auto oder mit dem Traktor angereist sein und aus den Flüchtlingslagern in den noch von der YPG bzw. dem Assad-Regime kontrollierten Regionen im Osten von Afrin kommen.
Der Regionalrat von Afrin wurde Ende März während einer Konferenz in Gaziantep in der Türkei, als Übergangsbehörde zur Schaffung einer neuen lokalen Regierung in Afrin gegründet und beaufsichtigt die Wiederherstellung der Gemeindestrukturen.
„Wir erwarten einen größeren Zustrom von Einwohnern“, erklärte Ahmad Hassan, der Vorsitzende des Regionalrates in der westlichen Stadt Sheikh al-Hadid in Afrin gegenüber der der Syria Direct. Hassan zufolge hätten alleine am Dienstag 20 kurdische Familien die Kleinstadt Sheikh al-Hadid erreicht. Zuvor waren sie vor den kämpfen zwischen dem türkischen Bündnis und der YPG Anfang des Jahres geflohen.
Die türkische Armee sowie die von der Türkei unterstützten Milizen der Oppositionsarmee FSA hatten während der militärischen Operation Olivenzweig Anfang März die Kontrolle über Afrin von der YPG übernommen. Ankara betrachtet die YPG und ihren politischen Flügel, die Partei der Demokratischen Union (PYD), als eine Terrororganisation aufgrund ihrer Verbindungen zur Terrororganisation PKK, die seit Jahrzehnten einen bewaffneten Konflikt in der Türkei führt.
Während der rund zweimonatigen Offensive, unterstützt durch türkische Luftangriffe und Artilleriefeuer, flüchteten laut einem Bericht des UN-Nothilfekoordinators (UNOCHA) bis Ende April ca. 135.000 Menschen aus der Region, zumeist in den Osten. Die überwältigende Mehrheit der Afrin-Flüchtlinge suchte Zuflucht in der angrenzenden Region Tal Rifaat – Gebiete in der nordwestlichen Provinz Aleppo, die von der kurdisch geführten Selbstverwaltung der YPG kontrolliert wird – und den nahe gelegenen Städten Nubul und al-Zahraa, die von Regimekräften zusammen mit der YPG kontrolliert wird.
In Afrin erklärten die örtlichen Vertreter Ahmad Hassan und Azad Osman, dass sie sich regelmäßig mit türkischen Beamten treffen würden, um die Rückkehr der aus Afrin geflüchteten Menschen zu koordinieren und zu erleichtern. Osman zufolge gebe es „Hindernisse“, die Flüchtlinge darin einschränke, nach Afrin zurückzukehren. Milizen der YPG würden in der Region Tal Rifaat die Flüchtlinge einschüchtern und finanziell ausbeuten. An den irregulären Grenzverläufen gebe es kein Durchkommen, da die YPG sie mit Waffengewalt daran hindere.
Oppositionelle Beobachter melden seit Wochen, dass die YPG über offizielle und inoffizielle Kanäle die Flüchtlinge eindringlich davon warne, in die angestammten Gebiete in Afrin zurückzukehren. Anfang der Woche wurde Berichten zufolge ein Flüchtling aus Afrin durch eine von YPG-Kämpfern an einem Kontrollposten in Tal Rifaat abgefeuerten Schuss tödlich getroffen, als eine Gruppe von Flüchtlingen versuchte, die Redaktion der Nachrichtenplattform „Enab Baladi“ zu erreichen und deren Korrespondenten die Zustände am Kontrollposten zu erzählen. Laut diesem Bericht würden die Flüchtlinge seit Tagen im freien übernachten.
Syria Direct zufolge hätten Journalisten sich am Dienstag mit dem Sprecher der YPG, Nouri Mahmoud, in Kontakt gesetzt und eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten, bis vor Veröffentlichung des Berichts jedoch keine Antwort erhalten. Seit Wochen meldet die UNOCHA, dass die Bewegungsfreiheit der syrisch-kurdischen Flüchtlinge in die Region Afrin eingeschränkt werde. Einem Bericht vom 16. April zufolge erreichte nur eine begrenzte Anzahl von Familien über Routen ausserhalb der öffentlichen Verkehrwege die Region Afrin. Dabei hätten die Flüchtlinge ein erhebliches Risiko auf sich genommen, Minen-verseuchtes Gelände zu überqueren.
Laut dem Bericht der Syria Direct werden auch vereinzelte Milizgruppen der FSA mit dem Vorwurf konfrontiert, die Rückkehr der Flüchtlinge mit Bestechungsgeldern zu erschweren. „Es scheint, dass diese Hindernisse eher mit monetärer Ausbeutung als mit Sicherheitsfragen zu tun haben“, erklärt der Pressesprecher des Regionalrates von Afrin. Einem Mitglied der Tajama a-Thuwar al-Kurd, eine kurdische Koalitionskraft der FSA die an der Operation Olivenzweig teilnahm, behauptete am Dienstag im Gespräch mit Syria Direct, dass die 200 Familien, die diese Woche nach Afrin zurückgekehrt sind, dies durch Bezahlung von Geldern tun, als sie FSA-Kontrollpunkte in der Region erreicht hätten. Er bat darum, nicht namentlich erwähnt zu werden, um Konflikte mit anderen Gruppen der Freien Syrischen Armee in der Gegend zu vermeiden. „Die Menschen in Afrin stehen vor zwei Problemen: Die [YPG] verhindern, die FSA-Checkpoints erheben Bestechungsgelder“, fügte der FSA-Kämpfer hinzu.
Ein Sprecher der von Ankara unterstützten FSA-Milizen Al-Jabha a-Shamiya, die der Pressesprecher Osman beschuldigt hatte, zurückkehrende Einwohner finanziell auszubeuten, sagte gegenüber Syria Direct, seine angegliederten Milizen würden keine Kontrollpunkte auf dem Weg nach Afrin bewachen. Zwei weitere Fraktionen der FSA, von denen die Syria Direct eine Stellungnahme forderte, reagierten nicht oder wiesen die Vorwürfe zurück.
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