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Türkei-EU Gipfel in Varna: Realpolitik und Zuversicht geben Ton an

Selten wurde ein EU-Türkei-Gipfeltreffen von kommentierenden Gegnern einer engeren Zusammenarbeit zwischen Ankara und Brüssel im Vorfeld so heruntergespielt, aber zur selben Zeit von den journalistischen Befürwortern eines neuen diplomatischen Frühlings so hochgelobt wie jenes vom Montag dieser Woche in der bulgarischen Hafenstadt Varna am Schwarzen Meer.

(Foto: TCCB)
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Von Klaus Jurgens

Selten wurde ein EU-Türkei Gipfeltreffen von kommentierenden Gegnern einer engeren Zusammenarbeit zwischen Ankara und Brüssel im Vorfeld so heruntergespielt und zur selben Zeit von den journalistischen Befürwortern eines neuen diplomatischen Frühlings so hochgelobt wie jenes vom Montag dieser Woche in der bulgarischen Hafenstadt Varna am Schwarzen Meer.

Türkei-EU Gipfel in Varna: Realpolitik, Zuversicht geben Ton an

Da aber Realpolitik den Ton angab, sollte weder Euphorie noch Schlechtmachen als Bemessungsgrundlage dienen; beide Verhandlungsseiten dürfen eigentlich relativ zufrieden sein mit den Ergebnissen, auch wenn es augenscheinlich nur sehr wenige konkrete Ergebnisse zu vermelden gab – aber das hatte wohl auch kaum jemand der Ehrengäste anders erwartet; ‚the wider picture‘ zählt diesmal weitaus mehr um die Nachhaltigkeit, die Langfristigkeit der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu garantieren.

In diesem Zusammenhang muss man festhalten, dass vereinzeltes verbales Anti-Türkei Säbelrasseln, welches noch bis kurz vor dem Beginn des Treffens hier und da zu hören war, schon am Tage selber tonlos war, als ob es niemals an die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Andere Türkei-Miesmacher zogen es vor, den Gipfel, nachdem er denn stattgefunden hatte, wenig bis überhaupt nicht zu kommentieren – Normalität bringt halt keinen Stoff für neue Hetz-Schlagzeilen.

Im Prinzip war es also genau das Ergebnis, welches objektive oder neutrale Beobachter in Europa aber natürlich auch in der Türkei selber erhofft hatten: ‚back to business‘ – zwar langsam aber eben sicher.

Ich erlaube mir, meine kurze Analyse dem Präsidenten der EU Kommission Jean-Claude Juncker zu widmen. Dies vor allem deshalb, weil seine Stellungnahme während der Presserunde mit dem bulgarischen Premierminister und Gastgeber Boyko Borissov, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie EU Ratspräsidenten Donald Tusk uns politischen Kommentatoren einen perfekten Einblick in das interne Gefüge der EU gibt und somit auch ‚zwischen den Zeilen‘ lesen lässt wohin der Mitgliedsschafts-Zug der Türkei denn nun wirklich fährt – vorsichtig gefragt: Fährt er denn noch? – Ich komme auf diesen Punkt zurück.

Des Weiteren wurden gerade Junckers zumeist positive Worte bisher viel zu wenig in den Medien berücksichtigt, und ich wollte versuchen, etwas Neues zur Nach-Varna-Debatte beizutragen: Französisch als Kommunikationssprache, auch für ‚Zwischen-den-Zeilen-Leser‘.

Wenn man die Europäische Union vor Ort beobachtet und darüber berichtet, hilft es enorm, der französischen Sprache mächtig zu sein, oder zumindest Kollegen um sich zu haben, die diese Aufgabe meistern. Denn obwohl sich die EU inhaltlich und organisatorisch ständig weiterentwickelt, gibt es ein oft unterschätztes Detail, welches über die Jahrzehnte nichts an Relevanz einbüßte: Französisch ist die Sprache der Brüsseler Diplomatie (und der Straßburger sowie Luxemburger), selbst wenn der Redner, Beamte oder Politiker eine andere Muttersprache hat, mit Sicherheit in den Machtzentren, den Büros sowie den Korridoren und Vorzimmern.

Darüber hinaus werden viele offizielle Texte zuerst in der französischen Sprache veröffentlicht und erst dann in andere Sprachen übersetzt. Den frankophilen Zeitvorteil nennt man das in den Stammcafés der Brüsseler Journalistenzunft; entweder lächelnd oder verärgert, je nach Sprachkenntnissen.

Dieses Mal gab es sogar, abgesehen von einer kurzen Passage im Redetext von Jean-Claude Juncker, die auf Englisch eingefügt worden war, am französischen ohnehin gar keinen Weg vorbei. Es sei denn, man war live vor Ort oder verfolgte die Debatte online – die EU Kommission teilte diskret mit, dass die einzige Fassung der Ansprache während der Pressekonferenz eben nur auf Französisch verfügbar sei.

Also nun zum Inhalt seines Statements, und das kann sich, egal in welcher Sprache, durchaus sehen lassen. Juncker begann mit dem Wunsch, wieder ein Klima des Vertrauens zwischen der EU und der Türkei herzustellen. Er bedauerte, dass beide Seiten vis-à-vis ihrer eigenen Bevölkerungen meistens die trennenden Unterschiede hervorheben anstatt die Gemeinsamkeiten zu erwähnen.

Zuerst sprach er die geostrategischen Interessen an, die beide Seiten verbinden, so zum Beispiel den südlichen Gaskorridor, welcher Gas aus Aserbeidschan über die Türkei weiter nach Europa transportieren wird. Er sei zuversichtlich, dass das erste Gas sodann im Jahre 2020 ankommen werde. Zweites Thema: der Kampf gegen den Terrorismus. Juncker betonte, dass „wir nur gemeinsam den Kampf gegen diese Plage gewinnen können“. Drittens, das Thema Migration kam auf die Tagesordnung. Juncker betonte, dass die Zahl der Flüchtlinge, die Europa über die Türkei erreichen, um 97 Prozent zurückgegangen sei. Die internationale Solidarität, sowie die Solidarität der Türkei mit Europa stehe in diesem Zusammenhang für außerordentliche Bemühungen seitens der Türkei.

Ähnlich dem Thema Französisch als wichtigstes Kommunikationsmittel sprach Juncker selbst eine weitere Brüsseler Spezialität an: die Buchführung und Rechnungsprüfung der EU, die dafür verantwortlich sei, dass von den ersten zugesagten drei Milliarden Euros zur Unterstützung der türkischen Bemühungen im Flüchtlingsbereich erst 1.8 Milliarden ausbezahlt worden sein.

Die Gelder waren ja auch nie als direkte Überweisungen gedacht, sondern projektbezogen; genau so würden die weiteren 1.2 Milliarden, sobald die Projekte begutachtet worden seien, angewiesen werden. Dies gelte gleichermaßen für weitere drei Milliarden Euros. Juncker sprach dann über sich selbst und sagte, er sei ja ein Romantiker, auch Nostalgiker, und von daher etwas traurig darüber, wie die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei derzeit aussehen.

Er sagte, er sei gegen demagogische oder populistische Strömungen, die einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verlangen. Bemerkenswerterweise nannte er sich selbst als den Garanten der weiteren Beziehungen! Die Türkei solle die bilateralen Beziehungen mit EU-Staaten verbessern, und hier vor allem die Beziehungen mit Zypern und Griechenland.

Schwere des Putschversuches vom Juli 2016 erst später richtig erkannt

Mit Bezug auf den Putschversuch vom Juli 2016 räumte er zum ersten Mal Fehler seitens der EU ein, die den Ernst des Putschvorhabens und den Anschlag auf das Leben von Präsidenten Erdoğan nicht sofort richtig erkannt hatten. Seine Worte sind ein deutlicher Brückenschlag, wenn auch ein verspäteter, den Ankara jedoch wohlwollend notiert haben wird.

Er sprach aber auch seinen Wunsch an, dass aufgrund der Stärke der türkischen Institutionen der Ausnahmezustand nun aufgehoben werden könne und dass die Türkei das Thema der Inhaftierung von Journalisten überdenken möge. Aber Juncker verzichtete auf Negativschlagzeilen, er bat lediglich darum, diese Punkte wohlwollend zu berücksichtigen. Genau solche freundschaftlich gemeinten Ratschläge kommen immer gut an in Ankara – Mit-dem-Finger-Zeigen auf die heutige moderne, demokratische und äußerst erfolgreiche Türkei zieht aber mit Sicherheit nicht!

Die letzten zwei Punkte richteten sich aber wohl auch an die Anti-Türkei-Stimmen nicht nur in Brüssel, sondern auch in einigen EU-Mitgliedsstaaten, ein ‚Besänftigung-Paket‘ sozusagen; ohne diesen Titel beanspruchen zu können und was mir auffiel war das Jean-Claude Juncker als Europas Spitzendiplomat rüberkam, viel eher auf der Seite von erfolgreichen Beziehungen zwischen der Türkei und seiner EU als man manchmal von Rat oder Parlament zu Ohren bekommt.

Jeder wollte und konnte eben etwas aus Varna mitnehmen. Man redet wieder miteinander, nicht übereinander. Jetzt kommt es darauf an, dass Ankara auf Brüssels Vorschläge, falls berechtigt, eingeht, und dass aber auch Brüssel auf Ankaras Wünsche hört. Als da wären Visa-Liberalisierung, schnelle Beurteilung der Flüchtlingsprojekte für die noch ausstehenden 1.2 Milliarden Euro der ersten Tranche und die Arbeit an weiteren Verhandlungskapiteln.

Juncker sagte abschließend auf eine Frage aus dem Auditorium, dass die EU an der Seite der Türkei steht bezüglich der Gefahr des Terrors, dass aber dieser Kampf, sobald er grenzüberschreitend begangen wird, immer im Rahmen internationalen Rechts stattfinden muss.

Nichts womit Ankara nicht leben könnte, nichts was Brüssel nicht eiligst zugestehen könnte. Das war Varna – und es zeigte sich einmal mehr, dass die EU Kommission als Hüterin der EU-Verträge, als Initiatorin neuer Gesetze, aber eben auch als Exekutive die weitaus wichtigste Rolle spielt im System aus Parlament und Rat. Schade, dass manche Mitgliedsstaaten der Kommission diese Rolle anscheinend wegnehmen wollen, zumindest in Bezug auf die Verhandlungen mit der Türkei.

Fazit: Ist das türkische EU Glas halbvoll oder halbleer – nimmt man die türkische sowie die Kommissions-Position als Gradmesser, halb voll und auf bestem Wege, bald wieder voll zu sein. Anders gefragt und wie bereits etwas weiter oben schon einmal in den Raum gestellt: Fährt der türkische EU-Mitgliedsschafts-Zug überhaupt noch? Aber sicher – in Varna wurden hoffentlich einige ganz wichtige neue Gleise dafür verlegt, und so manche Weiche neu gestellt. Beidseitig, versteht sich.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


 

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Klaus Jurgens – London School of Economics Postgraduate Degree Government. Vormals Uni-Dozent Ankara, Schwerpunkt BWL und KMU. Über zehn Jahre vor Ort Erfahrung Türkei. Zur Zeit wohnhaft in Wien. Politischer Analyst und freiberuflicher Journalist.