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Kommentar: Viele Missverständnisse im deutsch-türkischen Verhältnis

"Alles in allem sehe ich nach wie vor viele Missverständnisse und Irrtümer im derzeitigen Verhältnis Deutschland – Türkei und kann nur hoffen, dass beide Seiten mit mehr Verständnis aufeinander zugehen und dass die Medien objektiver und weniger sensationslüstern berichten", so Vorbeck.

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Von Holger Vorbeck.

Die Türkei steht kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, die Bevölkerung verarmt tagtäglich mehr und mehr, das tägliche Leben ist geprägt durch die Diktatur eines Tyrannen, in der es weder eine Opposition noch persönliche Freiheiten gibt!

Erst kürzlich habe ich diese Diskussion mit einem Nachbarn geführt, der mich zum wiederholten Male vor der Zukunft hier warnen wollte, denn die Türkei befinde sich in einer Rezession und die Menschen hier haben kein Geld mehr und werden demnächst stehlen und einbrechen! Und vor allem der schwache Kurs der Lira macht den Menschen hier zu schaffen!

Tatsächlich ist die Wirtschaft der Türkei im vergangenen Jahr deutlich gewachsen und wächst weiter. So erwartet man für den Juli 2017 den höchsten Export in einem Monat in der türkischen Exportgeschichte.  Im vergangenen Jahr hat die Türkei in der EU die meisten Kraftfahrzeuge verkauft. Die EU-Staaten haben 2016 für über 77 Milliarden Dollar Kraftfahrzeuge aus der Türkei importiert, was einem Anteil von 20 Prozent entspricht. Es folgen Importe aus Japan mit 19 Prozent und aus den USA mit 14 Prozent.

„Ach, solche Zahlen sind doch alle geschönt!“ hört man dann häufig. Aha, diese Zahlen beispielsweise stammen von der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Geschönt? Gefälscht? Wohl kaum.

Ja, die Lira hat an Wert verloren im Laufe des letzten Jahres. Vor einem Jahr gab es für den Euro ca. 3,25 Lira, heute sind es ca. 3,90 bis 4,15 Lira. Wie das allerdings Privatleuten hier Probleme bereiten soll, ist nicht ersichtlich. Der schwache Lira-Kurs wirkt sich allerdings auf den Export positiv aus, da türkische Waren im Ausland billiger werden. Und auch der Tourist aus UK, Norwegen, Deutschland , Dänemark oder den Niederlanden bekommt jetzt mehr für seinen Euro, sein Pfund oder seine Krone.

Um die Wirtschaft der Türkei zu beurteilen, lohnt auch ein Blick auf die Infrastrukturprojekte, die kürzlich fertig gestellt sind oder sich im Bau oder in der Planung befinden. Dabei reden wir von der Bosporusbrücke, dem Tunnel in Istanbul, den Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge, die teilweise schon in Betrieb sind oder zügig ausgebaut werden, dem neuen Flughafen in Istanbul, dem weltgrößten Genforschungszentrum in Izmir, dem größten und modernsten Krankenhaus Europas in Mersin, dem Ausbau der Autobahnen und vielen weiteren Projekten.

Und dann kommt immer wieder das leidige Thema der „Diktatur“, der „Tyrannei“, der „Freiheit“, der „Menschenrechte“ und der „Demokratie“ hoch.

Diese ganzen Diskussionen basieren nach meiner Überzeugung auf einigen Annahmen, die zumindest einmal hinterfragt werden sollten. Die erste Annahme ist die etwas arrogante Behauptung, dass nur und ausschließlich die Demokratie nach westlichem Muster geeignet ist, ein Land zu führen und zu verwalten, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Es gibt allerdings genügend Beispiele, dass es sehr wohl andere Modelle gibt, ein Land aufblühen und erfolgreich werden zu lassen – die Türkei ist sicher ein Beispiel hierfür! Und was die Menschenrechte angeht, denke ich, dass es für jede Regierung wichtiger sein sollte, dafür zu sorgen, dass die Menschen genug zu essen haben, als dafür zu sorgen, dass sie sagen können „Ich habe nicht genug zu essen“ oder in der Zeitung lesen können, dass es nichts zu essen gibt!

Eine weitere Annahme ist , dass die Oppositionsparteien der Türkei aus lupenreinen Demokraten bestehen! Wer die CHP und ihren Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu als Demokraten ansieht, ist entweder unwissend und ahnungslos oder verfolgt eigene Interessen, die nicht unbedingt lauter sein müssen. Nebenbei bemerkt, gibt es zwischen Kemal Kılıçdaroğlu und dem Präsidenten Erdoğan keinen Dissens darüber, dass der Prediger Gülen hinter dem Putschversuch vom Juli 2016 steckt. Kılıçdaroğlu wirft Erdoğan lediglich vor, früher davon gewusst und nicht rechtzeitig etwas dagegen unternommen zu haben.

Eine weitere weit verbreitete Annahme ist, dass die „Experten“, die auf allen Medien präsent sind, unabhängig sind und keine eigenen Interessen verfolgen, also die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit erzählen. Da hört man dann gerne einem Herrn Cem Özdemir zu, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, deutscher Staatsbürger ist, in der Türkei zur Minderheit der Tscherkessen gehören würde, aber doch einen türkischen Namen hat, also doch bestimmt Alles über die Türkei weiß. Wirklich? Es darf bezweifelt werden.

Gerne genommen wird hier auch Can Dündar, ein rechtskräftig in der Türkei verurteilter und nach Deutschland geflohener Straftäter. Dass der nun objektiv über das Land berichtet, dessen Gerichte ihn verurteilt haben, mag ich nicht recht glauben. Zumal auch seine Reputation hier in der Türkei nicht gerade glänzend ist, bei der Erwähnung seines Namens verdrehen die meisten Türken die Augen und sagen so etwas wie „ach, der….“.

Ganz aktuell wird in allen Medien über die Festnahme des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner berichtet. Der Aufschrei ist riesig, die Reaktionen reichen bis zur Forderung, die Türkei aus der Nato auszuschließen (was die Verträge allerdings nicht hergeben). Ich weiß nicht, was dort in Istanbul im Einzelnen vorgefallen ist. Was mich allerdings interessiert ist, was genau habe ich mir unter einem Menschenrechts“aktivisten“ vorzustellen? Aktivist? Bedeutet das, er unternimmt Aktionen? Er tut mehr als Menschenrechte einzufordern und auf Defizite hinzuweisen? Irgendwo habe ich gelesen, dass er bisher überwiegend in Afrika tätig war und zur Türkei keinen Bezug hat. Wenn das stimmt, hätte er sicher gut daran getan, sich vor seinen „Aktionen“ über die Gesetzeslage in der Türkei zu informieren!

Alles in allem sehe ich nach wie vor viele Missverständnisse und Irrtümer im derzeitigen Verhältnis Deutschland – Türkei und kann nur hoffen, dass beide Seiten mit mehr Verständnis aufeinander zugehen und dass die Medien objektiver und weniger sensationslüstern berichten.

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Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 da