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Pfuschbehandlungen
Ärzte-Pfusch in der JVA Neumünster – Vorwürfe dem Justizministerium seit Jahren bekannt

Ferat A. gab zu Protokoll: "In einem Fall sprach ich ihn auf erkennbar unsaubere Handschuhe an. Er gab an, dass diese sauber seien. Ich wies ihn darauf hin, dass an dem einen Handschuh noch Blut haftete. Erst darauf hat er die Handschuhe gewechselt."

(Symbolbild: pixa)
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Hamburg (ots) – In der Justizvollzugsanstalt Neumünster hat es offenbar über mehrere Jahre hinweg Pfuschbehandlungen und Hygienemängel durch den Zahnarzt der Anstalt gegeben. Die Gefangenen waren den Methoden häufig ausgeliefert, da die Behandlung durch andere Ärzte nur mit Rechtsmitteln erstritten werden kann. Immer wieder haben sich Gefangene mit Beschwerden an das Ministerium und den Petitionsausschuss des Landtages gewandt; im Ministerium hielt man die Beschwerden jedoch offensichtlich für unbegründet.

Über die Vorwürfe hatte zunächst die „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung“ berichtet. Im Politikmagazin „Panorama 3“ im NDR Fernsehen erheben Betroffene erstmals Vorwürfe vor der Kamera. So berichtet der mittlerweile entlassene „Stephan“ (Name geändert), dass ihm der in der Anstalt tätige Zahnarzt Dr. Michael M. mehrere Zähne überkront und eine Brücke eingesetzt habe. Weil die Schmerzen anschließend zugenommen hätten, sei „Stephan“ erneut in die Sprechstunde gegangen, habe aber lediglich starke Schmerztabletten erhalten.

Erst nach der Entlassung – „Stephan“ saß zwei Jahre wegen Betrugs – wurde ihm klar, dass der Zahnarzt offenbar gepfuscht hatte: Ein anderer Arzt stellte fest, dass die von Dr. M. eingesetzte Brücke und Kronen erneuert werden müssten. Ein Gutachter der Krankenkasse bestätigte dies. Gegenüber „Panorama 3“ beschreibt der Gutachter, der Hamburger Zahnarzt Dr. Matthias Bergeest:

„Die Arbeit ist nicht funktionstüchtig.“ Kronen und Brücke führten zu einer ständigen Zahnfleischentzündung. „Sie sorgt dafür, dass Zahnhalteapparat und Zähne selbst gefährdet und langfristig nicht zu erhalten sind.“ „Stephan“ leidet bis heute unter Schmerzen: Selbst Kekse essen sei schwierig. Laut Heil- und Kostenplan würde die Korrektur der Zähne rund 10.000 Euro kosten – Geld, das er nun vor Gericht zu erstreiten versucht.

„Stephan“ gibt an, sich immer wieder beschwert zu haben: „Ich bin mehrmals da gewesen, habe mehrmals die Abteilungsleiterin und die Vollzugsleitung informiert, dass die mich bitte zu einem anderen Arzt überstellen. Das wurde nicht gemacht. Man hat mich und die anderen Gefangenen nicht für voll genommen.“

„Panorama 3“ liegen die Berichte weiterer Gefangener der JVA vor. So wurden Nicolaie S. Zähne gezogen und eine Brücke verbaut. Offenbar befinden sich aber noch Wurzelreste der Zähne im Kiefer, die zu Schmerzen und Entzündungen geführt haben. So zitierte jedenfalls das Landgericht Kiel aus der Gefangenen-Personalakte von Nicolaie S. Das spreche, so das Gericht, für den Verdacht eines Behandlungsfehlers.

Auch Jens B. gab zu Protokoll: „Mir wurden fünf Zähne gezogen. Bei einem Zahn verblieb ein Teil der Zahnwurzel im Kiefer.“ Es sei „zu einer Entzündung gekommen“. Die aktuelle Leitlinie der Zahnmedizin sieht in einem solchen Fall ein Röntgenbild zur Unterstützung der Diagnostik vor. Doch Jens B. schrieb: „Eine Röntgenuntersuchung wurde nicht vorgenommen.“

Nicolaie S. gab an, auch Hygieneverstöße beobachtet zu haben. Der Gefangene, der als Dolmetscher bei einigen Behandlungen dabei war, habe „gesehen, dass er mit denselben Instrumenten, mit denen er zuvor im Mundraum des einen Gefangenen hantiert hatte, sodann im Mundraum des nachfolgenden Patienten arbeitet, ohne diese zu wechseln oder zu desinifizieren.“ Ferat A. gab zu Protokoll: „In einem Fall sprach ich ihn auf erkennbar unsaubere Handschuhe an. Er gab an, dass diese sauber seien. Ich wies ihn darauf hin, dass an dem einen Handschuh noch Blut haftete. Erst darauf hat er die Handschuhe gewechselt.“

Zahnarzt Dr. M. war mehrere Jahrzehnte lang in der JVA per Honorarvertrag tätig und wurde vor einem Jahr pensioniert. Offenbar bestanden die Missstände längere Zeit. Björn Ursolov saß in den 1990er-Jahren in Neumünster ein. Er berichtet in „Panorama 3“, dass es schon damals ein offenes Geheimnis gewesen sei, dass der Zahnarzt unsauber arbeite. „Wieso geht das noch 20 Jahre weiter, wenn sich damals die ersten Leute beschwert haben?“

Das Land hat eine Fürsorgepflicht gegenüber Gefangenen: Deren Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung ist gesetzlich verankert. „Panorama 3“ liegen Beschwerden sowohl an die Anstaltsleitung als auch an das Justizministerium in Kiel vor. Auch der Petitionsausschuss des Landtages wurde seit 2013 fünf Mal wegen der zahnärztlichen Versorgung in Neumünster angeschrieben. Eine Eingabe bezog sich auf die „Praxis des Zahnarztes, mehrere Patienten mit demselben Handschuhpaar zu behandeln.“ Sie hatte insgesamt 45 Unterzeichner.

Die Vorwürfe müssen dem Ministerium spätestens seit 2013 bekannt sein. Nach Informationen von „Panorama 3“ ging mindestens eine Beschwerde an Justizministerin Anke Spoorendonk (SSW) persönlich. Auf Anfrage teilte ein Sprecher des Ministeriums mit, es handele sich um Vorwürfe von Gefangenen über medizinische Behandlungen in einer JVA. „Das ist nicht ungewöhnlich, stellt sich in den allermeisten Fällen jedoch als haltlos heraus.“ Die Behauptungen und Vorwürfe seien „bislang allesamt unbewiesen“. Die Klärung der Vorwürfe dauere an. Der Petitionsausschuss habe in keinem Fall Anhaltspunkte für Fehler in der ärztlichen Behandlung und Versorgung gefunden. Mit Hinweis auf laufende Verfahren lehnt das Ministerium weitere Äußerungen ab.

Auch die seit 2013 amtierende Leiterin der JVA Neumünster, Yvonne Radetzki, wollte sich zu den Vorwürfen mit Hinweis auf laufende Verfahren nicht äußern. Auch sie teilte mit, dass es in den letzten Jahren bei Eingaben keine Anhaltspunkte für eine ärztliche Fehlbehandlung gegeben habe.

Auch Zahnarzt Dr. M. verwies über seinen Anwalt auf anhängige Gerichtsverfahren.

„Panorama 3“: Dienstag, 24. Mai, 21.15 Uhr, NDR Fernsehen