Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Ibrahim Seven, ein selbstbekennender Sozialist, Politiker und Autor assyrischer Herkunft der in der türkischen Stadt Midyat geboren wurde und derzeit in Deutschland lebt, meint, dass die massive Desinformationskampagnen über den syrischen Bürgerkrieg nicht nur direkt die christlichen Minderheiten betreffen, sondern auch die Terrororganisation PKK mit ihrem syrischen Ableger YPG in ein unerklärlich positives Licht rücken.
Seit dem Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien in dieser dritten Phase, überschlagen sich die Ereignisse in Deutschland. Deutsche Politiker werfen der Türkei offen vor, Kriegsverbrechen begangen, völkerrechtswidrig in Nordsyrien einmarschiert und dort ethnische Säuberungen planen.
Die massiven Anschuldigungen haben eine Intensität angenommen, die immer mehr Fragen aufwerfen. Zuerst einmal kämpft die Türkei in Nordsyrien nicht nur gegen eine Terrororganisation namens IS oder YPG/PKK, sondern auch gegen eine massive Desinformationskampagne, deren Ausgangspunkt in Europa und im Ausland zu suchen ist.
Jeder halbwegs nüchterner Mensch wird von vornherein diese Feststellung abnicken: Konflikte bergen die Gefahr, dass Menschenleben gefährdet werden, Kollateralschaden nicht zu verhindern sind; vor allem dann, wenn die anderen Konfliktparteien wie YPG/PKK oder IS nicht gewillt sind, sich einer staatlichen Drohung zu beugen und das Weite zu suchen. Wer als einer dieser terroristischen Parteien die Zivilbevölkerung so als Faustpfand in Gefahr bringt, hat jede Toleranz verwirkt.
Das hat man vor allem bei den Anti-IS-Operationen der US-geführten Streitkräfte eindrucksvoll feststellen können. Bis heute weigern sich neben den USA auch Frankreich oder die Niederlande, für zivile Opfer die Verantwortung zu übernehmen, die durch massive Luftschlägen im Irak oder Syrien ums Leben kamen oder schwer verletzt wurden. Bis heute hat sich keine politische Stimme erhoben, die gefordert hat, dass diese NATO-Verbündeten vor das Internationale Gerichtshof zu bringen sind.
Welches internationale Mandat hatten oder haben denn diese europäischen Länder und die USA, um in Syrien oder Irak militärisch vorzugehen? Waren die massiven Luftschläge nicht mit ein Grund, weshalb die Fluchtbewegung im Irak oder Syrien mitausgelöst wurden? Hat man nicht selbst einer ethnischen Flurbereinigung den Weg geebnet, in dem man die YPG/PKK in das Vakuum in Nordsyrien lotste, die die abziehende syrische Regimearmee hinterlassen hat?
Zum anderen, kam es denn nicht bereits zu Erschießungen von politischen Gefangenen und Zivilisten seitens der YPG/PKK und auch der IS in der Region, wovon nicht nur Menschenrechtsorganisationen mehrfach berichtet haben. Sprachen denn diese Organisationen nicht von ethnischen Säuberungen? Auch der assyrische Politiker und Autor Ibrahim Seven hat in einem TV-Betrag der Assyria TV ausführlich dargelegt, was die YPG/PKK dort getrieben hat und weiterhin betreibt.
Es gibt keine Einheit oder Gemeinschaft in „Rojava“; dass ist die einhellige Meinung von Minderheiten und Arabern in Nordsyrien. Es gibt nur Zwang, Drohung und Gewalt, die „Rojava“ zusammenhält. Wenn man Ibrahim Seven hört, wirft dieser der YPG/PKK sogar eine Vereinnahmung der christlichen Minderheiten wie Aramäer, Assyrier oder Chaldäer vor. Sie seien aber gegen diese Vereinnahmung, denn die christlichen Minderheiten in Nordsyrien sind gegen eine wie auch immer geartete Autonomie, die von der PYD/YPG bzw. PKK anvisiert wird. Seven spricht in diesem Zusammenhang von Gewalt, Drohungen und Mord, um die christlichen Minderheiten zur Autonomie „Rojavas“ zu zwingen, deren kurdische Vorstellung von „Rojava“ keineswegs dem entspreche, die auch in Europa nachgezeichnet wird.
Seven geht noch weiter und erklärt gar, dass die kurdische Minderheit in Nordsyrien nicht das Maßstab aller Dinge sein könne. Nordsyrien sei ein Flickenteppich von Minderheiten, mehrheitlich aber von Arabern bewohnt. Kurden gebe es versprengt in manchen Gebieten, aber sie würden in keiner Region in Nordsyrien die Mehrheit bilden.
Seven stellt gar fest, dass die christlichen Minderheiten so schnell wie möglich von den Fängen der YPG/PKK befreit werden wollen, auch wenn die Türkei mit ihrer Vergangenheit bei den christlichen Minderheiten andere Assoziationen weckt, als die eines Befreiers. Dennoch sei die Türkei ein souveräner Staat, in der Recht und Ordnung herrsche; im Gegensatz zu einer Terrororganisation wie die YPG/PKK, die Recht und Gesetz nicht kenne, Willkürherrschaft die Regel sei, so Seven weiter.
Das ist auch eine Einleitung zum nächsten und dringlichen Thema: Wenn singuläre Verbrechen im Rahmen einer solchen türkischen Militäroperation in Nordsyrien geschehen, ist dem nachzugehen. Nicht weniger, nicht mehr und das hat die türkische Führung längst mehrfach betont; was sie nicht einmal müsste, weil es selbstverständlich ist. Niemand erwartet von der Anti-IS-Koalition, dass sie sich für irgend etwas rechtfertigt oder Verbrechen aus ihren Reihen nachgeht.
Für Verbrechen die von koalierenden Verbündeten begangen werden, kann auch die Türkei per se nicht verantwortlich gemacht werden, noch taugen solche bekannt gewordenen Vorfälle – die es gilt zu überprüfen – die mit der Türkei verbündeten syrischen Rebellen-Einheiten pauschal in ein terroristisches Licht zu rücken.
Wenn die Türkei neben regulären Truppen mit Milizen kooperiert, bleibt es nicht aus und ist überdies auch nicht zu skandalisieren, dass dort vereinzelt auch Leute oder Gruppen dabei sind, die eine fragwürdige Vergangenheit haben und das womöglich noch ausleben. Die Türkei ist ein Rechtsstaat der nach internationalen Normen arbeitet und sehr wohl jedes Vorgehen eines Verbündeten im Nachbarland genauestens beäugt. Wer beäugt denn eigentlich die YPG/PKK, außer den Menschenrechtsorganisationen, die meist nicht in der Lage sind, vor Ort Verbrechen nachzugehen, die angezeigt werden?
Eine ähnliche Sorgfalt bei der Recherche einzelner Verbrechen oder Biographien, wenn es um die Terroristen der YPG/PKK geht, die infamerweise immer nur als „die Kurden“ apostrophiert werden, gibt es in europäischen Medien jedenfalls nicht, was es noch unterstreicht, dass die Desinformationskampagnen aus Europa forciert werden.
Es ist doch recht interessant, dass deutsche Redakteure genau nachzeichnen können, wo und mit wem ein x-beliebiger „Fußsoldat“ vor zig Jahren dieses oder jenes vermeintlich kompromittierende Selfie/Video gemacht haben soll, während kein einziger deutschsprachiger Bericht über die terroristischen Biographien der YPG/PKK-Führungsriege existiert. Ein Mazlum Kobane etwa – von Trump skandalöserweise als „General“ bezeichnet – gehört weltweit in die erste Liga der Terroristen; Ziehsohn Öcalans, vor 26 Jahren der PKK beigetreten, seither verantwortlich für zahllose Anschläge und Tote in der Türkei.
Dieser Kobane ist nicht nur ein „Fußsoldat“ der durch das Netz der personellen Selektion gerutscht ist, sondern der Führer der YPG-PKK-Schergen. Man sollte sich mal fragen, ob da nicht etwas gewaltig schief läuft, wenn die YPG/PKK – eine dem strukturellen Wesen nach terroristische Vereinigung – durchweg anonymisiert mit „die Kurden“ assoziiert wird, während man auf der anderen Seite offenbar gehörigen Aufwand betreibt, um mit der Lupe nach singulären Verbrechen und fragwürdigen Biographien auf der Seite der türkischen Verbündeten zu suchen, um sie als terroristisch zu diffamieren.
Niemand kann ausschließen, dass der Soldat oder der Milizionär, dem man eine Waffe in die Hand drückt, sich nicht als Psychopath entpuppt oder durch affektive Dynamiken in Gruppen Gewaltexzesse vorkommen. Das gab es zu allen Zeiten und in allen Konflikten. Dem ist auch nachzugehen. Es sollte aber einen doch schwer wundern, wenn ausgerechnet die türkischen Waffengänge hier die Ausnahme bilden sollten. Wogegen die Türkei sich energisch zu verwahren versucht ist, das politisch-propagandistische Framing, der politische Kontext, den man um solche Ereignisse herum in Europa, in Deutschland spinnt.
Nebenbei ist auch die Behauptung YPG-PKK-Lobbyisten schlicht falsch, dass die Türkei (bzw. gar Erdogan persönlich) für vermeintliche Kriegsverbrechen eine Mitschuld trage. Das wäre nur dann der Fall, wenn man auf Führungsebene solche Taten angeordnet oder zumindest in grober Fahrlässigkeit billigend in Kauf genommen hätte. Ansonsten gilt selbstredend auch im Kriegsrecht, dass Schuld individuell zu sanktionieren ist.
Aber um welche „Verbündeten“ geht es denn da, mit der die Türkei in Nordsyrien gegen die Terrororganisation YPG/PKK und IS vorging und auch jetzt vorgeht? Wir sollten nie vergessen, dass die syrische Nationalarmee bzw. im weiteren Verlaufe des syrischen Bürgerkrieges als Freie Syrische Armee (FSA) bekannt, zu Beginn des arabischen Frühlings von den USA, von europäischen Staaten, vor allem auch von Deutschland nicht nur politisch sondern auch finanziell und logistisch nach Kräften unterstützt wurde.
Es gibt etliche Anfragen von deutschen Abgeordneten an die deutsche Bundesregierung und zwangsläufig deren Antworten, in der sehr gut hervorgeht, wie, wer, wann und was geliefert, geleistet oder wessen Waffengänge gutgeheißen hat. Also jene Bundesregierung, die sich heute hinstellt und von einer Rebellenmiliz nichts mehr Wissen will, stattdessen von „Dschihadisten“ oder „Islamisten“ spricht. Das ganze hat aber bis vor kurzem noch die gesamte Europäische Union mitgetragen. Mit Verlaub, so schnell kann sich keine Rebellenmiliz „islamisieren“, außer, wenn Europa es so will!
Der britische Premierminister David Cameron hatte am 6. März 2013 gegenüber dem britischen Parlament angekündigt, dass seine Regierung die syrische Opposition finanziell und materiell verstärkt unterstützen werde. Dabei hat er Waffenlieferungen angekündigt. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten am 20. April 2013 angekündigt, ihre Unterstützung an die Nationale Koalition auf 250 Mio. US-Dollar aufzustocken. Unter anderem unterstützten die USA die Freie Syrische Armee mit medizinischer Ausstattung und Lebensmitteln. Mit geringeren Beträgen unterstützten auch Frankreich, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien, die Europäische Union u.a. die Nationale Koalition im Wesentlichen im zivilen Bereich. Darüber hinaus ist bekannt, wonach Saudi-Arabien und Katar ebenfalls Unterstützung leisteten. Das war den Abgeordneten in Deutschland seit 2013 bekannt, siehe Drucksache 17/13515.
Vor allem, bislang war das militärische Vorgehen der Türkei in Syrien im Einklang mit den Zielen und Absichten der Anti-IS-Koalition. Das Ziel der Anti-IS-Koalition war die Bekämpfung des Terrorregimes des sogenannten Islamischen Staats (IS). Der türkische Einsatz in Nordsyrien war von Anfang an auch an die YPG/PKK gekoppelt, stand bis dahin nach Einschätzung der Bundesregierung grundsätzlich auch in Einklang mit diesem Ziel.
Das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel der Syrischen Kräfte, sprich auch der militärische Arm FSA, wurde von der Bundesregierung bis weit in das Jahr 2016 im Wesentlichen als eine gemäßigte Gruppe der so genannten Inlandsopposition angesehen. Dass die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) Mitglied des Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel der Syrischen Kräfte war, sah die Bundesregierung damals jedoch als politische Belastung aufgrund der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen des militärischen Arms der PYD, vgl. hierzu beispielsweise der Bericht „Under Kurdish Rule. Abuses in PYD-run Enclaves of Syria“ von Human Rights Watch vom 19. Juni 2014, was auch aus der Antwort in der Drucksache 18/7114 hervorgeht. Die PYD trennte sich später auch vom Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel der Syrischen Kräfte.
Über die türkisch geführte Militäroperation in Afrin oder Idlib in Nordsyrien, in der wieder aufgrund der Propaganda der YPG/PKK sowie williger Propagandisten in Europa, mutmaßliche Kriegsverbrechen, ethno-demografische bzw. religiös-konfessionell motivierte Vertreibungen sowie schwere Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung stattgefunden haben sollen, darüber lagen der Bundesregierung jedenfalls 2017 keine Erkenntnisse vor, was wiederum aus der Drucksache 18/12455 hervorgeht.
Stattdessen steht in der selben Antwort der Bundesregierung Gegenteiliges. So wurde von den Abgeordneten die Frage gestellt, ob denn die Berichte der syrischen Oppositionsmilizen der FSA, die „Partiya Yekitîya Demokrat“ („Partei der Demokratischen Union“, PYD/YPG) mit dem syrischen Regime zusammenarbeite, richtig sind. Außerdem würden der PYD/YPG gezielte Veränderungen der ethnischen Struktur zu Gunsten der „Kurden“ in Nordsyrien vorgeworfen. Und wissen Sie was die Bundesregierung darauf antwortet? Die Bundesregierung stand bereits damals der PYD/YPG/PKK mit kritischer Distanz gegenüber. Wieso wohl?
Hintergrund der Antwort der Bundesregierung waren ernstzunehmende Berichte aus unterschiedlichen Quellen, u.a. der Untersuchungskommission des VN-Menschenrechtsrates über die Menschenrechtslage in Syrien, über autoritäre Machtausübung der PYD in ihren Einflussgebieten und Gewalttaten der mit ihr verbundenen bewaffneten Organisationen YPG und Asayiş gegen Personen, die anderer politischer Auffassung sind oder unabhängige zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen versuchen. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zog denn die Bundesregierung? Keine! Stattdessen war man sich nur einig, dass die Nationale Koalition, sprich FSA, keine „Erfüllungsgehilfen Katars und der Türkei“ seien.
Nun, da aber die terroristische Bedrohungslage sich gewendet hat, die IS weitgehend zerschlagen, für die Türkei nur noch die Existenz der YPG/PKK im Raum steht, änderte sich offenbar die Grundhaltung der Bundesregierung. War zuvor ein Vorgehen gegen den IS demnach vom kollektiven Selbstverteidigungsrecht im Rahmen der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, insbesondere Resolution 2249 (2015) vom 20. November 2015, umfasst, so war es in Zusammenhang mit der YPG/PKK nicht mehr gedeckt. Aber wieso sollte das nicht im Falle der YPG/PKK gelten?
Gegenstand der terroristischen Bedrohungslage waren aber doch auch die von allen Seiten als terroristisch eingestuften Gruppierungen: sog. „Islamischer Staat“ (IS), die Kurdische Arbeiterpartei (Partiya Karkerên Kurdistanê – PKK), die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi – DHKP-C), die Kommunistische Partei der Türkei (Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist – TKP/ML) und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (Marksist Leninist Komünist Parti – MLKP).
Diese genannten Terrororganisationen sind es, die bereits im März 2016 in einem gemeinsamen öffentlich vorgetragenen Memorandum der Türkei den Kampf angesagt hatten, auch aus Nordsyrien heraus operieren zu wollen. Nichts anderes erklärt auch Ibrahim Seven in seinem Interview gegenüber der Assyria TV. Schlimmer, er erhebt nicht nur gegen die oder Europa, sondern sogar gegenüber türkischen Oppositionellen wie Garo Paylan, Selahattin Demirtas oder Hayko Bagdat und türkischsprachigen Oppositionsmedien wie Ahwal-News sowie Arti Gercek schwere Vorwürfe, Propaganda für die YPG/PKK zu verbreiten.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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