Von Ruşen Timur Aksak
Can Dündar und Hayko Bagdat sind im deutschen Exil und haben dort die mediale Plattform „Özgürüz“ gegründet. Geschäftsführend ist allerdings ein „David Schraven“ von CORRECTIV. CORRECTIV ist eine Rechercheplattform. Warum ich das alles schreibe? Ganz einfach, weil Hayko Bagdat gestern via Social Media seine Kündigung/Rücktritt verlautbaren hat lassen. Habs in meinen Stream gespült bekommen und gleich mal gelesen. Es ist ein offener Brief gerichtet an Can Dündar.
Darin beschreibt Bagdat den Grund für seinen Abgang mit drastischen Worten: Ausbeutung, Gefährdung der Sicherheit von Mitarbeitern durch „David“ (Schraven, Anm.), Dündars Einknicken vor dem Geschäftsführer „David“, nicht überwiesene Honorare, den Umstand, dass ein verunglückter Kollege, der als freier Angestellter noch im Ambulanzwagen gefragt worden sei, ob er denn überhaupt versichert ist,…
Viele bitter vorgetragene Vorwürfe insbesondere an den Geschäftsführer David Schraven gerichtet.
Dann habe ich das Telefon weggelegt und wollte eigentlich weiter faulenzen, als es mich doch zum Grübeln brachte. Und zwar aus einem unpolitischen Grund. Ich fand Bagdats offenen Brief eigentlich eine Frechheit. Prekariat im Journalismus? Ja, Grüßgott! So unhaltbar der Zustand an sich ist, ist prekäre Beschäftigung im Journalismus von Ankara bis Berlin keine Seltenheit. Und nirgends macht die Branche Freudensprünge oder stellt mal locker ein paar hundert arbeitslose JournalistInnen ein – das Gegenteil ist der Fall.
Du arbeitest 40-50 Stunden die Woche, aber bekommst nur ein bisschen Honorar überwiesen und das nicht am Stichtag X? Willkommen in der journalistischen Realität Europas. Denn so sehr ich jedem Kollegen und jeder Kollegin eine anständige Anstellung wünsche, muss man die Realität dennoch immer vor Augen haben. Du bist freier Journalist, aber kommst nicht über die Runden? Nun, dann musst du nebenbei arbeiten – wie so viele, insbesondere Junge. Und wer mit Prozessen droht, hat gleich mal die halbe Branche gegen sich – das ist eine beständige Drohkulisse. Aber lassen wir das.
Bagdats offener Brief hat mich vor allem daran erinnert, wie surreal das Europa-Bild in der Türkei ist. Immer schon war und offenbar immernoch ist. Und nicht nur die „einfachen“ Leute, sondern scheinbar auch belesene, akademisch versierte Geister scheinen nach wie vor zu glauben, die Straßen Mitteleuropas seien mit Gold oder zumindest Silber gepflastert. Dieser Irrglaube spiegelt sich in Bagdats Worten wieder.
Jahrelang hab ich den Jugendlichen im Dorf meines Vaters versucht zu erklären, dass das Leben, das sie sich ausmalen, so einfach nicht stattfinden wird. Wer bei uns scheinbar viel verdient, zahlt im Vergleich zur Türkei auch ordentlich Steuern. Lebenskosten, Ausländerfeindlichkeit, Aufenthaltsbewilligungen,…und und und. Ich bin nie durchgekommen. Auch nicht bei befreundeten StudentInnen, die in Europa weiterstudieren und dort Karriere machen wollten. Die Pläne waren hanebüchen, doch die Illusionen blieben aufrecht – wie hart die Kritik auch gegen die Tore schlug.
Wer wissen will, wie das Leben in Europa ist, wenn man ganz unten anfangen muss und das muss man sowohl als Gastarbeiter als auch als politischer Exilant, wer also wissen will, was einen erwartet, soll in die Augen der Gastarbeiter der ersten Generation blicken. Diese Erschöpfung ist keine Momentaufnahme, sondern Ausdruck harter Arbeit über Jahrzehnte, die bis in die (Selbst-)Ausbeutung gegangen ist.
Wenn Bagdat also nun in seinem Brief Pläne schmiedet, schnell ein Buch zu schreiben und möglichst berühmt zu werden, dann sei es ihm gegönnt. Zwischenzeitlich kann er sich aber auch bei den Nachfahren der Gastarbeiter erkundigen, was man tut, wenn es nicht zum Leben reicht: Zweiter Job, beide Partner müssen anpacken, Putzen gehen, umlernen, AMS-Kurse,…
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Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.