Von Irma Kreiten
Angesichts des jüngsten Terroranschlags in Istanbul, bei dem in der Neujahrsnacht 39 Menschen ums Leben kamen und 70 verletzt wurden, drückten Außenminister Steinmeier und Angela Merkel ihr Beileid aus.
Das Brandenburger Tor wurde mit der türkischen Nationalflagge angestrahlt. Anders als nach dem Putschversuch im Juli 2016 gewann man tatsächlich den Eindruck, daß weite Teile der deutschen Öffentlichkeit betroffen reagierten und echtes Mitgefühl zeigten.
Das Innehalten und Zurückstellen von politischen Interessen und Gegensätzen zugunsten allgemeinmenschlicher Reaktionen angesichts eines tragischen Ereignisses erstreckte sich jedoch nicht auf alle Berichte und Interpretationen in deutschsprachigen Medien.
Vereinzelt wurden bereits die ersten Meldungen über den Anschlag in der Silvesternacht verknüpft mit Feststellungen, die Türkei sei selbst schuld am Zuwachs an terroristischer Gewalt und habe die aktuellen Opfer zumindest indirekt mitverschuldet. Begründung: Das türkische militärische Eingreifen in Syrien.
Man stelle sich vor, nach einem Anschlag in Deutschland oder Frankreich wäre die erste Reaktion von journalistischer Seite gewesen, in aller Öffentlichkeit zu überlegen, ob die europäischen Regierungen diese selbst heraufprovoziert hätten – je nach Blickwinkel entweder aufgrund von Militärinterventionen im Ausland oder aufgrund von Nichteinmischung.
Eine solche Lesart hätte sicher zu Recht für Empörung gesorgt und vermutlich einen öffentlichen Aufschrei nach sich gezogen. Die Zusammenhänge, die zum Aufstieg von Terrorismus führen, sind oft recht komplex und sollten in der Tat auf andere Weise nachvollzogen und untersucht werden, nicht anläßlich hochemotionaler Ausnahmssituationen sowie punktuell und in Form einfacher Schuldzuweisungen thematisiert werden. Auch sollte es Konsens bleiben, daß Trauer angesichts von terroristischen Attentaten nicht unmittelbar für politische Interessensvertretung verwendet werden darf.
Die entsprechenden Interpretationen kamen zudem aus einer journalistischen “Ecke”, aus der heraus der AKP-Regierung in den Jahren zuvor immer wieder – ohne stichhaltige Belege hierfür – eine Zusammenarbeit mit dem IS unterstellt worden war oder doch zumindest suggeriert worden war, die Türkei würde nicht entschieden und entschlossen genug gegen den IS vorgehen.
Von der britischen Zeitung “The Independent” wird der Anschlag auf den Nachtclub “Reina” dagegen geradezu als Kriegserklärung des IS an die Türkei begriffen. Das Massaker unter den Partygästen am Bosphorus könnte als Straf- bzw. Vergeltungsaktion für die aktuelle türkische Militäroffensive gegen den IS beim syrischen El Bab (“Schutzschild Euphrat”) gedacht worden sein.
Denkt man die aktuelle Begründung von deutscher journalistischer Seite für die Zunahme terroristischer Anschläge in der Türkei konsequent weiter, so müßte man zum Schluß gelangen, daß ausländische Kräfte grundsätzlich nicht gegen den IS vorgehen und keine syrischen Zivilisten schützen dürften, weil der IS sich sonst antagonisiert fühlen und mit Terroranschlägen antworten würde. Implizit gibt man mit solchen Argumentationen Terroristen recht bzw. macht sich zumindest teilweise deren retributive Logik zu eigen.
Tatsächlich vermute ich, daß frühere, mehr oder weniger verschwörungsideologische Interpretationen hier noch nachschwingen. Manche westlich geprägten Journalisten können sich offenbar weiterhin nur mit großer Mühe vorstellen, daß gerade auch Muslime zu Opfern islamistischer Gewalttäter werden.
Wenn man dann auch nicht (mehr) ununwunden behaupten kann, Erdogan habe islamistische Anschläge selbst inzeniert oder stecke mit dem IS ohnehin unter einer Decke, vermittelt man eben zumindest auf andere Weise noch den Eindruck von einem “hausgemachten” Charakter der Terroranschläge. Offenbar läuft denn hier – anstelle von faktengestützten Analysen und besonnenerer Berichterstattung – weiterhin Kopfkino ab.
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