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Gastkommentar
Gaza-Genozid: Deutsche müssen sich nicht distanzieren

Kaan: "Muslime leben mit dem ständigen Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen – weil ihr Glaube, ihre Herkunft oder ihr Name schon reicht, damit jemand sagt: „Ja, aber was sagst du jetzt? Distanziere Dich erst mal!“

(Symbolfoto: Xai)
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Ein Gastkommentar von Tolga Kaan

Ihr sitzt da, trinkt euren Kaffee, scrollt durch die Nachrichten – und denkt: „Ach, das betrifft mich nicht?“ Falsch gedacht. Wer schweigt, unterschreibt mit. Es ist Zeit, dass auch Hans und Helga sich klar und laut vom Genozid in Gaza distanzieren.

1948 beschlossen die Vereinten Nationen die Genozidkonvention: Staaten sind verpflichtet, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen. Kein Wischiwaschi. Gesetz und Moral zugleich. Wenn schon diese Verpflichtung besteht, warum galt sie nur für Muslime und Andersaussehende? Gilt sie dann nicht für alle – und warum wird erwartet, dass nur bestimmte Leute ständig Rechenschaft ablegen?

Die alte Forderung – wie sie immer an die Muslime ging

Erinnert ihr euch, wie oft in Deutschland Menschen mit muslimischem, türkischem oder arabischem Hintergrund öffentlich zugerufen wurde: „Distanzier dich!“ Nach Anschlägen, nach Terrorakten, einfach so, weil der Täter religiös oder ethnisch ähnlich gewesen könnte oder vielleicht auch war.Nancy Faeser (SPD) sagte am 16. Oktober 2023:

Ich erwarte eine glasklare Abgrenzung vom Terror der Hamas, und das muss dieser Tage auch erfolgen.“

Damit forderte sie muslimische Verbände in Deutschland auf, sich explizit zu distanzieren.Ein weiteres Zitat von ihr:

Ich erwarte von den muslimischen Verbänden, dass sie sich ganz klar äußern und ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahrnehmen.“

Noch ein weiteres Zitat von der Innenministerin, die alle Bürger u.a. vor Hass und Hetze schützen solle, was ihr offensichtlich nicht gelang:

Die großen islamischen Verbände müssen … laut und deutlich gegen Antisemitismus aussprechen und die furchtbaren Terrorattacken der Hamas gegen Israel verurteilen.“

Es ging aber schon viel früher los:Wolfgang Schäuble (Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) sagte am 10. September 2004:Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Schäuble hat die Muslime in Deutschland dazu aufgerufen, sich klar vom Terrorismus zu distanzieren.“Zwischen 2004 und bis heute gab es etlicher dieser Aufrufe gegenüber Muslimen, mit denen man Bibliotheken füllen kann.Diese Forderungen sind wie permanent angezogene Prüfungsbögen, auf denen steht: „Beweise täglich, dass du kein Extremist bist.“

Wie sehr Muslime darunter gelitten haben und leiden

Sie leben mit dem ständigen Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen – weil ihr Glaube, ihre Herkunft oder ihr Name schon reicht, damit jemand sagt: „Ja, aber was sagst du jetzt? Distanziere Dich erst mal!“

Viele berichten, dass Kollegen, Nachbarn oder Fremde sie direkt oder indirekt unter Druck setzen: „Du musst dich äußern, distanzier Dich doch mal!“ Auch wenn sie nichts wissen, nichts belegen können.

Wie eine Moschee, in der Kopftuch tragende Frauen schon mehrfach rassistische Zuschriften oder Bemerkungen erlebten, allein weil jemand vermutete, sie seien mitverantwortlich – oder müssten sich distanzieren.

Studien belegen: Die islamfeindlichen Straftaten haben sich in Deutschland 2023 mehr als verdoppelt. Besonders nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind antimuslimische Übergriffe und Hasskommentare deutlich gestiegen.

Wenn die Forderung jetzt an euch gerichtet ist

Hans, Helga – stellt euch vor, dieselbe Frage wird jetzt euch gestellt: „Distanzier dich vom Genozid in Gaza!“ Warum? Weil ihr deutsch seid, weil ihr sichtbar blond, weiß oder kirchlich seid – so wie Muslime, Türken, Arabischstämmige immer sichtbar waren.

Diese pauschale „Umgekehrt-Forderung wäre jetzt legitim“, aber das Muster wäre dasselbe: Schubladen öffnen, Menschen reduzieren. Wie einst in dunklen Zeiten Deutschlands, nur anders gekleidet.

Diese Forderung, dass sich alle Deutschen distanzieren sollen, ist falsch. So unbehaglich sie klingt, so ungerecht ist sie: Niemand muss Schuld tragen, die nicht die eigene ist. Niemand darf gedrängt werden, sich öffentlich zu etwas zu bekennen, wofür er nicht verantwortlich ist.

Genauso wie es heute immer noch gegenüber Muslimen tägliche Praxis ist und falsch ist. Distanziert man sich mal nicht von Taten anderer, ist da mal schnell der Job verloren.

Aber – Kritik an einer Regierung ist erlaubt. Genozid ist ein juristisch schwerwiegendes Wort, aber wenn eine UN-Menschenrechtskommission feststellt, dass vier der fünf Kriterien der Genozidkonvention erfüllt sind, dann darf man dieses Wort benutzen.

Und ja – auch Vergleiche mit Hitler und dem Holocaust mögen provokant sein, vielleicht sogar schockierend. Aber wenn man klarstellt: Ich vergleiche Politik, nicht Menschen, dann ist auch das Teil einer legitimen Kritik.

Hans, Helga – ihr müsst euch also nicht distanzieren, weil ihr Deutsche seid. Ihr müsst nicht in die Ecke der Kollektivschuld gezwungen werden. Doch ihr könnt Haltung zeigen: gegen Ungerechtigkeit. Gegen Generalverdacht. Gegen die Schublade, in die man andere steckt – weil’s bequem ist.

Denn Gerechtigkeit heißt nicht: Alle sind schuldig. Sondern: Alle werden fair behandelt.

 


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


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