Ein Gastkommentar von Michael Thomas
Mein Berufsleben habe ich mit Marketing in der Großindustrie zugebracht, allerdings zählte das Verfassen von Slogans nie zu meinen Aufgaben.
Dennoch fand ich die Disziplin der Semantik als Marketinginstrument immer faszinierend und so habe ich mich immer wieder gern mit Spitzenleistungen aus dem Bereich beschäftigt. Eines Tages sah ich eine Werbung für Damenhandtaschen, die, halten wir uns fest, aus „veganem Leder“ gefertigt sind. Ich war begeistert! Nie wurde Kunstleder, also Plastik, besser vermarktet!
Der „Israelbezogene Antisemitismus“ funktioniert sehr ähnlich.
Hier wird einer Idee, in diesem Fall dem Antisemitismus, adjektivistisch eine ganz neue Zielrichtung gegeben, nämlich Israel.
Erkundigen wir uns bei der Regierung, was Antisemitismus zunächst eigentlich nun genau sein soll, lesen wir (1):
„ … Antisemitismus verweist dabei einerseits auf eine generalisierbare Dimension. Er richtet sich gegen Juden als Gruppe, Gemeinschaft oder Minderheit und beinhaltet Diskriminierungspraktiken, Formen des institutionellen Ausschlusses und die negative Zuschreibung vermeintlich kollektiver Eigenschaften.“
Im Klartext bedeutet das, dass ein Antisemit Juden hasst, weil er speziell ihnen besonders schädliche, niederträchtige und boshafte, bösartige Eigenschaften zuschreibt. Um die Dinge glasklar zu definieren, bevorzuge ich das Wort „Judenhass“. Ein Judenhasser ist dieser Definition nach also jeder, der Juden hasst, weil sie welche sind.
Bisher war es noch einfach – aber genau jetzt beginnt die Verrenkung:
Auch das nächste Zitat scheint auf dem ersten Blick zunächst unverdächtig und man neigt erst einmal dazu, ihn zuzustimmen:
„ … Der israelbezogene Antisemitismus projiziert entsprechende antisemitische Ressentiments auf den jüdischen Staat Israel und seine moderne Demokratie.“
Hier beginnt das Problem.
Erstens: mit Ausnahme kleinster, hässlichster rechtsradikaler Kreise findet der zuvor definierte Antisemitismus in den westlichen Gesellschaften nur extrem wenige Anhänger.
Judenhasser reinster Natur entspringen kulturell dem Mittelalter in der Mitte Europas und sie hassen Juden, wo immer sie sie antreffen. Die meisten von ihnen begrüßen die Existenz Israels als ein Gehege, in welches man sie hineinkarren und somit loswerden kann.
Immerhin war genau das der Leitgedanke in Großbritannien im ausgehenden 19. Jahrhunderts und selbst das Dritte Reich unternahm Anstrengungen, möglichst viele Juden nach Palästina zu bringen. Ein solcher Antisemit prügelt einen Juden in Berlin nieder – und freut sich, wenn dieser nach Tel Aviv verschwindet.
Weiter verbreitet sind mildere Formen des Ressentiments gegen Juden, dass sie „irgendwie schon anders“ wären, was jedoch nur selten in offene Feindschaft, Hass und Ausgrenzung mündet. Der Begriff Judenhass wäre hier ungenau und zu stark; es handelt sich hierbei meist um eine gewisse Xenophobie in Zusammenhang mit Rassismus. Die harte Form von Judenhass in Verbindung mit Schädigungs- oder gar Tötungsabsichten findet man kaum.
Deshalb sind auch die pro-palästinensischen Demonstrationen für gewöhnlich völlig frei von Judenhass; sachgegenständlich ist den meisten Demonstranten jede Religionsfrage völlig egal. Hier geht es einzig und allein nur um den Protest gegen ein Land, dass einer bestimmten Ethnie das ihre wegnehmen will und sich dazu des Völkermords bedient.
Diese Szene nimmt auch die Erzählung von einem angeblich in der Antike entstandenen Anspruch auf das Land im Grunde gar nicht zur Kenntnis, weil auch diese völlig irrelevant und für die Gegenwart gegenstandslos ist.
Als angeblich „antisemitisch“ wird jede Israelkritik jedoch über den Umweg der Selbstdefinition Israels bezeichnet, das sich selbst als „jüdischer Staat“ verstehen will.
Israel trägt diese Selbstidentifikation vor sich her wie einen Schutzschild, obschon sie nach Maßgabe aller Völker- und Menschenrechte völlig wertlos ist. Es könnte sich mit gleichem Nachdruck als „Staat der Kaffeetrinker“ bezeichnen und nähme dennoch im Kreise aller Nationen der Welt keine andere Position ein.
Indem sich Israel aber selbst als „jüdischen Staat“ bezeichnet, will es jede Kritik unter Bezugnahme dieser Eigenschaft als „Judenhass“ betrachtet wissen.
Darüberhinaus ist diese Selbstidentifikation allerdings auch noch faktisch falsch. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 20 Prozent aller israelischen Staatsbürger überhaupt keine Juden sind, muss die Bezeichnung „jüdischer Staat“ abgelehnt werden. Ganz einfach zu verstehen: wenn ich zu 8 blauen Würfeln 2 rote hinzulege, kann ich nicht sagen: „Ich habe eine blaue Fläche!“
Als Randbemerkung sei hier noch erwähnt, dass dieses Selbstverständnis natürlich auch die absolute Notwendigkeit beinhaltet, alle anderen Glaubensrichtungen entrechten zu müssen. Nur, wenn Israel durch Entrechtung, Vertreibung oder Tötung aller anderen Glaubensvertreter ein rein jüdisches Leben in seinem Staat herbeiführen würde, könnte es sich mit recht einen „jüdischen Staat“ nennen.
Das aber wäre in einem humanistischen, werteverbundenen und demokratischen Staat völlig unmöglich. Und auch das im Rang einer Verfassung stehende Nationalstaatsgesetz von 2018 (2), dass allerdings tatsächlich aussagt, dass Israel nur für Juden eine nationale Heimstätte sei, ändert nichts an der Bindung Israels an allgemein gültige Völker- und Menschenrechte.
Es mutet grotesk an, wenn europäische Politiker behaupten, Israel teile angeblich unsere Werte. Ein kurzer Blick ins Nationalstaatengesetz überzeugt selbst jeden Nichtjuristen innerhalb weniger Sekunden, welcher Unsinn das ist.
Im Fazit blicken wir also auf eine Protestszene, die sich nicht im mindesten für das Judentum interessiert und logischerweise demnach auch keineswegs vom Vorwurf des „Antisemitismus“, also Judenhass, getroffen wird. Infolgedessen transportiert sie natürlich auch keine antisemitischen Ideen in ihre Israelkritik.
Auch umgekehrt wird kein Schuh daraus: Israel wird nicht etwa kritisiert, weil es jüdisch sei, sondern weil es permanent internationales Recht bricht. Weder die Protestbewegung, noch das Völkerrecht erkennt eine Bevorrechtigung Israels aufgrund einer religiösen Ausrichtung an.
Semantisch beabsichtigt liegt hier ein gedanklicher Zirkelschluss vor: da Kritik an Israel allgemein „antisemitisch“ sei, soll sie es in jedem Fall auch dann sein, wenn die Kritik selbst kein Wort über Juden enthält.
Der Marketingmann in mir grinst. Verkaufstechnisch ist das geil gemacht.
Voran ging ein jahrzehntelanges, aufmerksames und gründliches, sehr erfolgreiches Framing, dass Israel mit allerlei positiven und emotionsgeladenen Ideen verbindet. Hören wir Israel, assoziieren wir „Opfer!“, „Verfolgung“, „Hoffnung“, „die Wüste blüht!“.
Antisemitismus aber ist ein dämonischer Begriff, der „braune Uniformen“, „KZ“, „Hakenkreuz“, „Gaskammer“ und „Davidstern“ transportiert.
Der „Israelbezogene Antisemitismus“ ist der semantische Doppelturbo, die ultimative, gedankliche und emotionale Säure, eine mit Widerhaken besetzte, verbale Peitsche. Sein Problem ist nur: er existiert überhaupt nicht, wie wir gesehen haben.
Wie „veganes Leder“. Wir verbinden mit „vegan“ glückliche Schweine, die ungeschlachtet über Wiesen springen, wobei „Leder“ etwas urwüchsiges, wertvolles, haltbares, teures und schönes suggeriert.
Wir sollen hier verschaukelt werden. Ein paar äußerst gerissene Kollegen von mir haben ein semantisches Meisterstück abgeliefert, das auch funktioniert.
Es wird höchste Zeit für uns zu erkennen, dass man uns für teures Geld einen billigen Plastiksack mit Griff als „veganes Leder“ andreht.
Kaufen wirs nicht, okay?
Quellen:
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
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