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Gaza-Krieg
Israel: Denn sie wissen nicht, was sie tun …

Thomas: "Überall begegnete ich dem Blick der Menschen, die den deutschen Stempel auf meiner Stirn selbst nachts leuchten sahen, den ich zu tragen schien. "

(Foto: Screenshot/Twitter)
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Ein Gastkommentar von Michael Thomas

Vor mehr als vierzig Jahren hatte ich zusammen mit einigen französischen und deutschen Freunden an einem warmen Septemberabend in Paris eine lustige Zeit. Wir rannten die Treppe zur ersten Etage des Eiffelturms hoch und bestaunten das Lichtermeer. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich einen Mann mit langen Schläfenlocken im Mantel und mit dem charakteristischen Hut, der zwar leise, aber aufgeregt nach seinen beiden Söhnen rief, während sein Blick, der Angst verriet, immer wieder zu uns herüberflog. Er scheuchte seine Söhne zum Lift.

Ich sprach ihn an. Wir waren nur eine lustige Truppe und hatten schließlich keine Absichten, ihn zu stören oder zu ängstigen.

Der Mann wurde immer nervöser, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Hastig teilte er mir mit, dass es gar nicht um uns persönlich ginge. Aber seine ganze Familie sei in Auschwitz ums Leben gekommen und er könne nichts gegen seine Gefühle gegen alles Deutsche unternehmen. Das sei nun mal so, da könne man gar nichts machen und da öffneten sich auch schon die Türen zum Lift, in den er förmlich mit seinen Kindern hineinsprang und den Blick abwendete, bis sich die Tür wieder zugeschoben hatte.

Nur wenige Jahre später nahm ich in einer freundlichen Familie in der englischen Provinz Unterkunft und verlebte einige Wochen auf dem englischen Land. Eines Tages trat die Dame des Hauses erstaunlich verlegen und ganz ohne ihre ansonsten offene und humorvolle Art zu mir und bat mich inständigst, ich möge mir bitte für den nächsten Abend nichts vornehmen. Meinen Fragen, worum es sich denn wohl handele, wich sie mit noch weiter anwachsender Verlegenheit aus und bedeutete mir nur, es sei wirklich wichtig.

Also fand ich mich am späten Nachmittag ein und sollte im bequemsten Sessel des Wohnzimmers Platz nehmen. Langsam war ich wirklich beunruhigt, und sollte recht damit behalten. Eine Zeit später schellte es an der Tür, Penny öffnete und insgesamt sechs Menschen betraten das Haus. Vorneweg schob man einen Rollstuhl ins Wohnzimmer, in dem ein älterer Mann saß, dem sowohl beide Arme als auch beide Beine fehlten.

Ohne große Erklärung oder gar Begrüßung blickte er mir starr in die Augen und fragte ebenso leise wie scharf, wo mein Vater im Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Nach bestem Wissen beantwortete ich ihm diese Frage; er war, tuberkulosekrank, untergewichtig, „nichtarisch“ und viel zu jung als „letztes Aufgebot“ in die SS gezwungen und an die Ostfront gekarrt worden, wo seine Einheit kaum zwei Wochen später von Russen aufgerieben und in Gefangenschaft geführt wurde.

Ohne jede sichtliche Regung nickte der alte Mann im Rollstuhl nur kurz und knapp und verließ zusammen mit seiner ganzen Begleitung das Haus, ohne auch nur noch ein Wort zu verlieren. Nach vielleicht zehn Minuten war der Spuk vorbei.

Penny schämte sich in Grund und Boden. Sie hockte mit rotem Kopf auf einem Schemel vor mir wie ein Schulmädchen und erklärte mir den Zusammenhang. Dieser Mann war der letzte Überlebende ihres Familienzweiges, der in der Schicksalsnacht von Coventry durch ein höllisches, deutsches Bombardement zusammen mit der ganzen Stadt vollständig vernichtet wurde. Diese Nacht hatte aus ihm einen lebenden Torso gemacht, der nicht vergessen konnte.

Überall begegnete ich dem Blick der Menschen, die den deutschen Stempel auf meiner Stirn selbst nachts leuchten sahen, den ich zu tragen schien. Es half nichts, überhaupt nichts, dass ich anfangs noch versuchte, den Menschen klar zu machen, dass meine eigene Familie in weiten Teilen vernichtet worden war, auch wenn wir keine Juden waren oder sind.

Als “Beifang“ sozusagen, weil das Vermögen meines nach Deutschland migrierten Urgroßvaters verlockte, der ein überaus erfolgreicher Unternehmer war. Seinem Leichtsinn, seinem blinden Glauben verdankten letztlich neun Familienmitglieder ihren Tod. Er glaubte, als Nichtjude, als „Hoflieferant des Kaisers“, der er gewesen war, würde ihm schon nichts widerfahren. Die überlebenden Familienmitglieder, insgesamt drei, waren im Grunde nur wandelnde Trümmer.

Ich selbst ertappe mich jedesmal, wenn ich über einen deutschen Friedhof laufe, dabei, wie ich mir Grabsteine genauer ansehe: „Geboren 1912? Einer von denen, die begeistert Hitlerfähnchen geschwungen und Juden den Tod gewünscht hatten?“

Mit dieser Geschichte betrachtet man Orte wie Bergen-Belsen etwa mit ganz anderen Augen und anderen Gefühlen, mit dieser Geschichte fühlt man die Vergangenheit und sieht die vielen Menschen schemenhaft vor sich über die Wege zu ihrem Tod laufen. Nicht aus religiösen Gründen heraus, sondern durch den gemeinsam durchlebten Wahnsinn fühlte ich mich Juden immer auf besondere Weise verbunden.

Und nun geschieht das alles noch einmal. Alles wieder von vorn, alles ist auf Anfang gesetzt und lässt ein schreckliches Ende erahnen.

Selbst, wenn das furchtbare Gemetzel in Gaza und im Westjordanland heute beendet würde, wird irgendwann in den folgenden vierzig oder fünfzig Jahren ein junger Isaak irgendwo erleben, wie vor ihm ausgespuckt wird. Weil er Isaak heißt und Israeli ist. Ob er Schläfenlocken oder einen Davidstern trägt, wird unwichtig sein.

Man wird in ihm sein Volk sehen, dass seine Scharfschützen nicht einmal, sondern zur Sicherheit mehrfach in Kinderköpfe hat schießen lassen. Isaak wird in den Augen der anderen für eine bizarre Freude am Schmerz der Vergewaltigten der Foltercamps stehen und seine Tränen werden die Menschen nur noch mehr anstacheln, ihm die Taten seiner Vorfahren wie Erbrochenes vor die Füße zu werfen.

Man wird ihn durch die Straßen so jagen, wie ich als junger Deutscher in England vor johlenden Rotten floh, die es dem „Nazi“ zeigen wollten. Man wird Isaak fragen, ob er in einer dieser „Siedlungen“ lebe, die den Palästinensern mit Kugeln, Zündeleien, Granaten und Flüchen gestohlen worden sind.

Ich sehe an mir, dass das furchtbare Leid weder vergessen, noch vergeben wird oder werden könnte. Allen internationalen Eiden, Schwüren, Versprechen und Hymnen zum Trotz steht Deutschland noch heute und für die nächsten hunderten von Jahren für die industrielle Vernichtung von Menschen – und Israel wird genau das gleiche Schicksal erleben. Die Scharfschützen der israelischen Armee, die heute belustigt in Dessous getöteter, palästinensischer Frauen in Kameras schauen, werden ihren Kindern Schmerz, Schuld und Scham vererben.

Wenn sie heute einen behinderten, freundlichen Jungen von einem Kampfhunde zerfleischen und zum Sterben zurücklassen, wird eines Tages ein junger Isaak dafür zusammengeschlagen. Es wird keine Rolle spielen, ob seine Eltern gegen die heutige Regierung protestiert haben und er den Dienst in dieser Armee verweigert hat. Er wird den Schmerz der Toten und Gefolterten fühlen und zugefügt bekommen.

Es wird in fünfzig oder mehr Jahren sogar auch völlig gleichgültig sein, ob Israel nach dem letzten Schuss innehält oder sogar umkehrt und sich ein langer Frieden anschließt, denn die Wunden sind geschlagen, der Hass ist gesät, die Feuer werden weiterbrennen, selbst wenn die Ruinen nicht mehr qualmen, denn niemand kann die Toten von heute mehr vergessen.

Isaak wird eines fernen Tages dafür leiden.

Wer diese unzweifelhaft eintretende Zukunft nicht sieht, wer immer denkt, ein zuckersüßer Friede werde eines Tages die Gräber für immer ins Vergessen versinken lassen, der irrt und hat aus der Geschichte nichts gelernt. Schon heute gilt Israel als der Staat auf der Welt, der am meisten verachtet wird. Daran ändern weder die Beschwichtigungen noch die Manipulationen oder die Lügen all seiner Verbündeten irgendetwas.

Es sind Millionen, die heute gegen den Willen ihrer Regierungen oder „Regierungen“ zumindest heimlich die Faust in der Tasche ballen, die angesichts der angerichteten Verbrechen heiße Tränen vergießen und die Bilder nicht mehr ertragen können.

Sie werden ihren Hass, ihre Wut, ihre Enttäuschung und ihren Schmerz ebenso mit ihrer Milch ihren Kindern zu trinken geben, wie es die Welt angesichts des Dritten Reiches tat. Es sind Millionen, die beinahe nur darauf warten, irgendwann Isaak zu treffen. Isaak, der selbst an dem, was sein Volk heute tut, völlig unschuldig sein wird.

Und in mehr als vierzig Jahren wird Isaak zusammen mit israelischen und französischen Freunden lachend die Treppen des Eiffelturms heraufstürmen, nur um oben einen Mann mit Turban zu treffen, der schwitzend nach seinen Kindern ruft, um den Turm fluchtartig zu verlassen. Dann wird Isaak noch Glück gehabt haben, denn vielleicht holt ihn weniger Jahre später die Rotte Jugendlicher irgendwo anders doch auf seiner wilden Flucht ein, die es einem „Zionisten“ besorgen wollen.

Man hat mir all die vielen Jahre gesagt, dass ich dem Mann vom Eiffelturm kein Verständnis hätte entgegenbringen sollen. Dass ich schließlich niemandem seiner Familie jemals etwas angetan hätte, viel zu jung für diese Verantwortung war und somit seine Verachtung, seinen Hass, seinen Ekel, seine Angst nicht verdient hatte. Doch wer so denkt, hat nie auf seiten der Verfolgten, der Gejagten, der Vernichteten gestanden.

Mein eigener Onkel verlebte das letzte Kriegsjahr in einem teilweise zerbombten Kohlenkeller. Wenn er Glück hatte, steckte ihm ein heimlicher Freund etwas verschimmeltes Brot durchs Loch oder er konnte eine Ratte erlegen, Wasser gab es in dem Gemäuer genug. Nur durch bloßes Glück entging er im letzten Moment der SS. Später erlitt er Gewaltausbrüche und trank sich beinahe zu Tode.

Isaak wird das in vierzig, fünfzig oder sechzig Jahren erfahren und lernen und verstehen, wie sich der Schmerz anfühlt, den sein Volk heute den Palästinensern antut. Dies Leid ist herzzerreißend, überwältigend und gefährlich. Es vergeht nicht, sondern kann und wird zu Verzweiflung, Wut und grenzenlosem Zorn werden.

Wir sollten uns heute schon mal Erklärungen und Entschuldigungen ausdenken, wenn Isaak in vierzig, fünfzig oder sechzig Jahren im Krankenhaus nach einem schweren Übergriff erwacht, weshalb ihm das widerfahren musste.

Weil wir es so gewollt haben. Deshalb.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Autor 

Michael Thomas ist Privatier, Fotograf, leidenschaftlich an Ägyptologie und Literatur interessiert, mit der er vor vielen Jahren als Autor regional einige Beachtung fand. Er verfolgt interessiert das Weltgeschehen durch Beobachtung internationaler Presse. Seinen Fokus legt er insbesondere auf die Palästinafrage und auf die islamische Welt.