Ramallah – Fünf Monate nach der Eskalation von Gewalt im Gazastreifen haben Kinder kaum noch Hoffnung auf eine Zukunft ohne Krieg und Entbehrungen. Das zeigt eine heute veröffentlichte Umfrage von Save the Children, an der Eltern, Betreuende und Partnerorganisationen vor Ort sowie Jugendliche und Expert*innen für mentale Gesundheit in der Region teilnahmen.
„Die Kinder hier haben alles gesehen – und sie verstehen. Sie sehen die Bomben, die Sterbenden, die Leichen. Wir können ihnen nichts mehr vormachen“, sagt Waseem*, einer der befragten Väter. „Inzwischen erkennt mein Sohn sogar, welche Art von Bomben fallen; er kann sie am Geräusch unterscheiden.“
Der Verlust geliebter Menschen, Angst um das eigene Leben, Beschuss, Flucht, Hunger und Durst: Dinge, die kein Kind je erleben sollte, sind für die Mädchen und Jungen im Gazastreifen täglich Realität. Gleichzeitig wird es für die vor Ort tätigen Helfer*innen immer schwieriger, sie psychosozial aufzufangen. Die Versorgung durch die sechs öffentlichen psychosozialen Zentren und das einzige stationäre psychiatrische Krankenhaus im Gazastreifen ist komplett zusammengebrochen.
„Am schlimmsten trifft es Kinder, die beide Elternteile verloren haben“, berichtet der Mitarbeiter einer Partnerorganisation von Save the Children. „Im Moment versuchen sie, einfach nur zu überleben: Wasser, Essen und Schutz zu finden. Der eigentliche Schock wird kommen, wenn all das vorbei ist. Dann werden sie noch viel stärker leiden.“
Ohne einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand sowie schnelle Hilfe, so die Expert*innen für psychische Gesundheit und Kinderschutz, die mit Save the Children im Gazastreifen zusammenarbeiten, werden viele Kinder lebenslange psychische Folgen davontragen. Jeder weitere Tag, an dem Gewalt herrscht, lässt ihre Chancen auf Heilung rapide sinken. Wesentliche Schutzfaktoren, die psychische Schäden mindern könnten, fallen aktuell weg: Es gibt keine festen Routinen, keine Möglichkeit zu spielen oder zu lernen, dazu verzweifelte Eltern, die selbst keinen Ausweg sehen. Laut den Fachleuten ist kein Entrinnen aus der Realität des Krieges möglich.
„Unsere Kinder sind verängstigt, wütend und können nicht aufhören zu weinen“, sagt die befragte Mutter Dalia*. „Sie haben bereits mehrere Kriege erlebt. Sie können nicht mehr. Und vielen Erwachsenen geht es genauso. Das ist einfach zu viel – für uns Eltern, aber erst recht für die Kinder.“
Die Umfrage schließt an frühere Studien der Kinderrechtsorganisation zur psychischen Verfassung der Kinder im Gazastreifen aus den Jahren 2018 und 2022 an. Vor zwei Jahren zeigte der Bericht „Trapped“ die tiefgreifenden Auswirkungen der jahrzehntelangen Blockade und der immer wieder eskalierenden Gewalt auf die psychische Gesundheit von Kindern. Bereits 2022 hatten 80 Prozent der Kinder emotionale Probleme. Sie fühlten sich ängstlich, angespannt und deprimiert. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte Suizidgedanken, 60 Prozent verletzten sich selbst.
Auch wenn eine ähnlich groß angelegte Untersuchung derzeit nicht möglich ist, zeugt die aktuelle Umfrage „Trapped & Scarred“ von der immer verzweifelteren Lage der Kinder und Familien. Die Befragten geben an, eine dramatische Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Kinder zu beobachten. Sie berichten von Angst, Unruhe, Essstörungen, Bettnässen, Hyperaktivität und Schlafproblemen, von Rückzug und Aggression.
„Es ist nicht hinnehmbar, dass ein Kind die Schrecken erleiden muss, die die Menschen im Gazastreifen derzeit durchmachen“, sagt Jason Lee, Länderdirektor von Save the Children für die palästinensischen Gebiete. „Schon vor diesem Krieg war ihre Widerstandskraft geschwächt. Nun kommen neue körperliche und seelische Narben hinzu. Zwar besteht noch Hoffnung, dass sie das Erlebte mit der richtigen Unterstützung eines Tages verarbeiten. Doch diese Arbeit ist unmöglich ohne einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand und einen sicheren, ungehinderten Zugang für humanitäre Helfende.“
Auch um das Wohlergehen der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln – darunter Kinder – sorgt sich die Kinderrechtsorganisation und fordert ihre sofortige Freilassung. Auch sie werden dringend psychosoziale Versorgung benötigen, um ihre schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.