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Ähnlichkeiten der germanischen und alttürkischen Schriftzeichen

Çayır: "Um den aktuellen Forschungsbedarf zum Vergleich der alttürkischen und „germanischen“ Schrift und Kultur darzulegen und nahezulegen, ist es ratsam, von den frühesten Kenntnissen zu beginnen"

Runenforscher Çağıl Çayır bei einem Vortrag zum Thema "Ähnlichkeiten zwischen germanischen und alttürkischen Runen" der DTG
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von Çağıl Çayır

Die Runenschrift aus Europa ist den Meisten als Schrift der „germanischen“ Völker bekannt. Die den europäischen Runen bezeichnend ähnliche alttürkische Schrift aus Sibirien und der Mongolei ist dagegen den Wenigsten bekannt. Selbst diejenigen, die sich wissenschaftlich mit der alttürkischen Schrift beschäftigen, wissen meistens nichts über den großen Vergleichsbedarf – oder leugnen ihn!

Um den aktuellen Forschungsbedarf zum Vergleich der alttürkischen und „germanischen“ (zum „Germanen“-Begriff der Historiker) Schrift und Kultur darzulegen und nahezulegen, ist es ratsam, von den frühesten Kenntnissen zu beginnen und die Rezeptionsgeschichte der Schriften und Kulturen verfolgend bis in die Gegenwart zu gelangen.

„Von Göttern stammende Runen schreibe ich…“ Die Inschrift von Noleby stammt vermutlich aus der Zeit um 600. Foto: Helena Bonnevier, Staatliches historisches Museum Schweden (CC BY 4.0)

Fangen wir bei den Runenschreibern aus Europa an. Diese haben uns meistens nur kurze Inschriften überliefert, die bis heute kaum bedeutungsvoll entzifferbar sind. Deswegen wissen wir kaum etwas über die Lebenswelt der Runenschreiber von den Runenschreibern selbst. Erst mit der Übernahme des Christentums und der lateinischen Schrift wurden die Sagentraditionen der germanischen Stämme, bei denen die Runenschrift verbreitet war, verschriftlicht.

Die Franken bieten uns den ersten Einblick in die Herkunftstradition der germanischen Stämme. So leiten sich die Franken selbst im 7. Jahrhundert gemeinsam mit den Türken aus Troja her. Diese Sage der Verwandtschaft zwischen Franken und Türken wurde im Zuge der Kreuzzüge und der Begegnung der fränkischen Kreuzritter und muslimischen Türken im „Heiligen Land“ populär. Aus dieser Zeit stammt auch die Herkunftslegende der Isländer.

In den sogenannten eddischen Überlieferungen leiten die Dichter und Chronisten einerseits die Runenschrift vom Runengott Odin her und andererseits oder gleichzeitig den Runengott Odin von den Türken aus Asien her. Also war der Türkenname spätestens ab dem 7. Jahrhundert in Europa, entweder als Verwandte der Franken oder als Vorfahren der Isländer und somit mittelbar als Erfinder und Lehrer der Runenschrift, bekannt.


Die älteste Odin-Inschrift stammt aus dem 5. Jahrhundert aus Vindelev in Dänemark. Besonders bemerkenswert ist u. a. der sogenannte Torque, der auch zur regulären göktürkischen Tracht gehörte. Foto: Vejler Museen (CC BY 4.0)

Mit der zunehmenden Macht der Osmanen wurde diese Verwandtschaft jedoch lästig und spätestens nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen gebrochen und verdrängt. Enea Silvio Piccolomini, damals noch Kardinal, war einer der größten Verfechter eines neuen Kreuzzugs gegen den Türken. Schon bald nach dem Fall Konstantinopels 1453 begann er zum neuen Kreuzzug gegen die Türken aufzurufen. Und in diesem Sinn verdrängte er die alten Herkunftslegenden.

Demnach könnten die Türken keine Verwandten der Europäer sein und schon gar nicht aus Troja stammen, so wie es noch bis ins 16. Jahrhundert allgemein angenommen wurde. In „Wahrheit“ seien die Türken ewige Fremde und Feinde der Europäer. Die Franken, die Deutschen seinerzeit, setzt er zudem mit den antiken Germanen gleich. Er war es, E. S. Piccolomini, der spätere Papst Pius II., der die Germania des Tacitus genau zu dieser Zeit entdeckte und vom Anfang an politisch benutzte – um nicht zu sagen missbrauchte.

Piccolomini sagte den Deutschen erstmals, dass sie sich mit niemandem vermischt hätten und nirgendwoher eingewandert, sondern die „reinen“ unvermischten Ureinwohner Europas seien – und jetzt angesichts der drohenden Gefahr durch die Osmanen und Türken aufgefordert seien, das „Erbe ihrer Ahnen“ gegen die angeblich ewigen Fremden und Feinde aus Asien zu verteidigen…

Eroberung Sibiriens durch Jermak den Kosaken-Ataman im 16. Jahrhundert. Gemalt von Wassili Surikow im Jahr 1895

Der Romanozentrismus der Italiener provozierte jedoch die Deutschen ihr eigenes Bild von den Germanen zu machen. So bemühten sich die deutschen Humanisten um ihre eigenen Ideale von ihren nun „germanischen“ statt trojanischen und türkischen Vorfahren und Verwandten. Der Germanozentrismus der Deutschen wiederum motivierte die Skandinavier, nun mit Rückgriff auf die Runendenkmäler in Schweden und Dänemark, einen neuen Skandinavismus anzutreiben. Zu dieser Zeit begann die moderne Runenforschung, die von Anfang an auch machtpolitisch bestimmt wurde.

Also nachdem das Christentum in Europa die Runenschrift verdrängte, motivierte die neue Kreuzzugsdiskussion die Skandinavier, nun unter dem Paradigma des Germanenmythos, die Denkmäler der vorchristlichen Zeit zu erforschen und sich an ihnen sprichwörtlich zu ergötzen. Zwar war man Anfangs immer noch nicht abgeneigt auch eine orientalische Herkunft der Runen in Betracht zu ziehen. Diesmal nach biblischem Vorbild statt der früheren Einwanderungssagen. Allerdings wurde dies bald durch die Wunschvorstellung verdrängt, dass die Schweden die Erfinder der Runenschrift seien und alle Menschheitskultur aus Schweden ausgewandert sei.

Dieser sogenannte „Rudbeckianismus“ wurde erst im 18. Jahrhundert durch den Großen Nordischen Krieg zurückgeschlagen. In diesem Krieg gerieten einige Zehntausende schwedische Soldaten in russische Kriegsgefangenschaft und wurden nach Sibirien deportiert. Dort entdeckte der deutschstämmige Offizier der schwedischen Armee Philipp Johann Tabbert, später von Strahlenberg, gemeinsam mit dem von Peter dem Großen beauftragten Danziger Arzt Daniel Gottlieb Messerschmidt, die ersten Runendenkmäler in Sibirien.

Zeichnung der ersten Runenfunde aus Abakan in Sibirien. Vor Ort abgezeichnet von Karl Schulmann im Jahr 1721. Veröffentlicht von Gottlieb Siegfried Bayer im Jahr 1729.

Diese Nachricht erinnerte die Gelehrten in Europa wieder an die alten Einwanderungslegenden und man zog wieder eine asiatische und türkische Herkunft der europäischen Runen in Betracht. Diese Sichtweise findet sich bei den größten Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts. Allerdings konnten sich derartige Erörterungen nicht gegen das spaltende Selbst- und Fremdbild ihrer Zeit durchsetzen.

Wiederholt sagte man sogar, dass in Sibirien gar keine Runeninschriften gefunden worden seien. Deswegen etablierte sich die Meinung, dass Runendenkmäler nur in Europa gefunden wurden. Dem entgegen sagte zum Beispiel 1821 der Begründer der wissenschaftlichen Runenforschung, Wilhelm Carl Grimm, dass die Runenschrift wohl möglich aus Sibirien, aus der früheren Heimat der Deutschen mit nach Europa gebracht worden sein könnte. Besonders interessant fand er in dieser Hinsicht die sibirischen Denkmäler.

Zu dieser Zeit waren die sibirischen Denkmäler noch nicht entziffert und wie gesagt leugnete man teilweise die Funde. Das ging so weit, dass sogar Ludwig Wimmer, der Erneuerer der wissenschaftlichen Runenforschung, am Ende des 19. Jahrhunderts um 1870 herum, immer noch auf den enorm wichtigen Vergleichsbedarf hinwies, doch meinte, dass man in Russland, also auch in Sibirien, noch keinerlei Spuren von Runenschrift gefunden habe. Das war völlig falsch!

Ironischerweise war es sein Kollege Vilhelm Thomsen, der 1893 die Runenschrift aus Sibirien und der Mongolei als Alttürkisch entzifferte. Jedoch entgegen der vorherigen Annahmen und Anstöße, die asiatischen und europäischen Denkmäler zu vergleichen, vertrat Thomsen plötzlich die Vermutung, dass sich die alttürkischen und europäischen Runendenkmäler nur zufällig ähneln könnten.

Diese Vermutung verwandelte sich daraufhin ohne weitere Untersuchungen zu einer Tatsache und manifestierte die Scheidung der Schriften und Kulturen in der Wissenschaft und Gesellschaft, was schließlich den Weg zur rassenideologischen Pervertierung der europäischen Runen durch die Nationalsozialisten ebnete. Die Nazis erhoben die Runenschrift zu Zeugen ihrer Germanenideologie, welche die NS-Verbrechen und den Holocaust geistig vorbereitete und begleitete.

Der rassenideologische Missbrauch der Runenschrift in Deutschland wurde erst durch den Zweiten Weltkrieg beendet. Danach geriet die Runenschrift in den Schatten ihres früheren Missbrauchs und war sozusagen ein Tabuthema. Kaum ein deutscher Wissenschaftler wagte es sich danach nochmal die Runenschrift in die Hand zu nehmen. Erst um die Jahrtausendwende erreichte die Runenforschung in Deutschland, in Europa und auf der Welt ein neues Stadium.

Nun geht man nicht mehr von einem rein „germanischen“ Ursprung der Runen aus, sondern sucht Vorbilder für die Runenschrift bei der lateinischen, der griechischen, der etruskischen oder auch der phönizischen Schrift. Die in den literarischen Quellen begründete und in der Forschungsgeschichte von Anfang an vielfach benannte türkische und sibirische Herkunftstheorie wird jedoch weiterhin vernachlässigt und wie eingangs erwähnt sogar verleugnet…

Neben der Wissenschaft ist der Vergleich der Schriften und Kulturen auch gesellschaftlich gefordert. Hierin liegt eine frohe Botschaft und Warnung. Denn einerseits ist der Vergleich der Schriften sehr vielversprechend und wichtig für die Wissenschaft und Gesellschaft. In der Wissenschaft lassen sich alternative Einflussfaktoren für die Ähnlichkeit und weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen finden.

Dadurch kann in der Gesellschaft viel in Bewegung kommen, was die Selbstfindung, Integration und Völkerverständigung betrifft. Gleichzeitig gilt es zu warnen. Denn die bisherige Vernachlässigung des Vergleichs der Kulturen und ihrer Ähnlichkeiten führte zur Zuspitzung exklusiver Kulturbilder, die zuletzt im Rassismus mündeten und in der Katastrophe der NS-Germanenideologie eskalierten. In diesem Sinne ist es dringend gefordert den Vergleich anzugehen.

Doch ebenso wie die Schriften und Kulturen sind auch die einzelnen Fachforschungsbereiche getrennt. Kaum ein Wissenschaftler unserer Zeit ist auf dem asiatischen und europäischen Gebiet ausgebildet. Deswegen erfordert es den besonderen Einsatz von Wissenschaftspionieren, die trotz aller Umstände und Hindernisse dazu beitragen die Wahrheit der Dinge ans Licht zu tragen. Zum Wohle der Gemeinschaft und Gesellschaft – weltweit und in Zukunft.

Literatur:


Çağıl Çayır, Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der türkischen und „germanischen“ Schrift, Pulheim 2022.

Çağıl Çayır, Zum Vergleich der alttürkischen und „germanischen“ Schrift und Kultur, in: Journal of Old Turkic Studies, 7/2, 420-443, 2023.

Dieser Artikel basiert auf folgenden Videovortrag:

Çağıl Çayır, Alte Verwandtschaft?! – Über die Ähnlichkeit der germanischen und alttürkischen Schriftzeichen, Yunus Emre Enstitüsü Köln, 30.09.2021.

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Çağıl Çayır studierte Geschicht und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlicht.


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