Der deutsch-türkische Politikwissenschaftler und Historiker Yasin Baş (sprich Basch) weist anlässlich des zehnten Jahrestags der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in einem Meinungsbeitrag für TRT-Deutsch sowie im Gespräch mit NEX24 auf die Parallelen der rechtsextremistischen Terrorgruppe und der NATO-Geheimorganisation „Gladio“ hin und zeigt sich über den NSU-Prozess ernüchtert.
Baş hält es für fatal, dass immer mehr Vertrauen verspielt werde. Das Vertuschen und Versagen müsse ein Ende haben. Nach Ansicht des Politikberaters steige die Zahl derjenigen, die von der Existenz eines „Tiefen Staats“ in Deutschland überzeugt seien. Das verloren gegangene Vertrauen müsse deshalb unbedingt zurückgewonnen werden.
In dem Beitrag, der auf TRT-Deutsch erschien, sagt Baş, dass man es sich zu einfach mache, die Hauptschuld einer langjährigen und bundesweiten Mordserie auf drei Menschen abzuwälzen, von denen nur noch eine Person am Leben sei. Eine „mutmaßlich systematische Verstrickung“ zahlreicher Stellen könne dadurch dementiert werden.
Dabei hätten die NSU-Mitglieder manipulierte Ausweisdokumente bei sich, die nicht ohne weiteres zu bekommen seien. „Ohne logistische und nachrichtendienstliche Unterstützung hätte eine Terrorserie mit dieser Reichweite freilich nicht durchgeführt werden können“, so der 34-jährige Historiker und Politologe. Die NSU-Terroristen seien an Geld, Waffen, Sprengstoff, technisches Material und – besonders gravierend – an nützliche Tipps und sogar an geheim eingestufte Informationen gelangt.
„Von wem diese gefährliche Terrororganisation ihre logistische, finanzielle und nachrichtendienstliche Hilfe erhielt, wurde jahrelang in mehreren Untersuchungsausschüssen deutscher Landtage sowie des Bundestages und in Gerichtsprozessen erforscht. Fazit: Am Ende gab es mehr Fragen als Antworten“, schreibt Baş.
Viele Alt-Nazis setzten ihre Karriere nach dem 2. Weltkrieg fort
Der auch als Journalist und Autor tätige Baş erklärt zudem, welche historisch-strukturellen Umstände diese rechtsterroristische Organisation begünstigt haben könnten:
„Ein Großteil der Eliten und Behördenmitarbeiter, vor allem im Auswärtigen Amt (AA), den Sicherheitsdiensten, Ministerien, Gerichten, Universitäten und Verwaltungen waren [nach dem Zweiten Weltkrieg] ‚neue alte Nazis‘. Kurz: In Wirtschaft, Politik, Staat, Medien, Polizei, Verwaltung, Wissenschaft, Armee und Justiz konnten sich nicht nur alte Demokraten der Weimarer Republik, sondern auch viele Nazis einnisten. Und zwar nicht nur in Westdeutschland, sondern gerade auch in der DDR. Auch die Amerikaner kooperierten mit Nazis“, so der Politikberater weiter.
Laut Schätzungen des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA seien noch bis in die 1970er-Jahre 25 bis 30 Prozent der Mitarbeiter der aus der Organisation des Ex-Wehrmachts-Generalmajors Reinhard Gehlen gegründeten BND ehemalige Mitglieder elitärer Naziorganisationen, schreibt Baş in seiner Analyse.
„Die Frankfurter Rundschau wies darauf hin, dass sich die Leitungsebene des Bundeskriminalamts 1959 noch zu 56 Prozent aus ehemaligen SS-Mitgliedern und zu 75 Prozent aus früheren Mitgliedern der NSDAP zusammensetzte. Dies alles konnte trotz der viel beachteten Bemühungen der Befreiungsmächte zur Entnazifizierung geschehen – also obwohl jede Anwärterin und jeder Anwärter auf einen Posten im Staatsdienst beweisen musste, dass sie oder er keine nationalsozialistische Vergangenheit hatte und der freiheitlich demokratischen Grundordnung gegenüber nicht feindlich gesinnt war.“
Ungereimtheiten und viele offene Fragen
Wenn Baş über den NSU redet, spricht er auch von einem „mutmaßlich großen Sumpf“, der ausdrücklich auf Einzelpersonen begrenzt werde. Doch die Einzeltäterthese sei höchst umstritten.
Die Vernichtung von Akten, mysteriöse Todesfälle von Zeugen und V-Leuten, unerklärliche Ungereimtheiten, die vor den verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüssen zu Tage traten, oder die Mitgliedschaft einzelner Beamter in rassistischen Organisationen wie dem „Ku-Klux-Klan“ oder „Blood and Honour“ sowie weitere Mitgliedschaften von einzelnen Sicherheitsleuten in rechtsextremistischen Organisationen verleiteten Beobachter dazu, Parallelen mit den Aktionen der NATO-Geheimarmee „Gladio” zu ziehen.
„Es wurde zwar gegenüber der Öffentlichkeit nie offiziell eingeräumt“, so der Politikwissenschaftler, „gilt aber weithin als wissenschaftlich nachgewiesen, dass im Kalten Krieg rechtsextremistische und antikommunistische Netzwerke innerhalb oder zumindest mit Wissen von Sicherheitsbehörden bzw. deren Duldung aufsehenerregende und teils blutige ‚Aktionen‘ durchführten“.
Parallelen mit der NATO-Geheimarmee „Gladio“
Die blutigen Aktionen der „Gladio“ seien damals reihenweise „Linken” oder kommunistischen Gruppierungen zugeordnet und die Urheber sowie Netzwerke im Hintergrund bewusst verschleiert worden, schreibt Baş. „Und was passierte bei den NSU-Morden? Welche Menschen wurden nach den Morden der NSU anfangs verdächtigt?“, fragt der Politikberater.
„Meist wurde von ‚rivalisierenden türkischen Gruppen‘ gesprochen. Die Familien der Opfer wurden zu Verdächtigen erklärt und stigmatisiert. Desinformation stand also in beiden Fällen im Vordergrund“, so Baş. Die verbrecherischen Taten seien allerdings nachweislich von rechtsextremistischen Zellen ausgeführt worden. Außerdem sei nachgewiesen, dass die Täter damals in Verbindung mit verschiedenen antikommunistischen, transatlantischen Nachrichtendiensten und der NATO-Geheimarmee „Gladio“ standen.
Viele Deutschtürken sind enttäuscht und desillusioniert
Auf Anfrage von NEX24 erklärt der Politologe, dass er von der Aufklärungsarbeit in Bezug auf den NSU enttäuscht sei. „Das untergräbt das Vertrauen. Die Menschen, allen voran die türkischstämmigen Menschen in Deutschland, möchten den Behörden gerne vertrauen. Aber das Versagen von Teilen dieser Behörden bei der Aufklärung führt leider nicht zu mehr Vertrauen.“
Wenn manche Untersuchungsausschüsse dann auch noch von „Sabotage“ sprechen, Zeugen und V-Leute plötzlich sterben, Akten verschwinden oder für Jahrzehnte unter Verschluss gehalten werden sollen, machen sich die Einen oder Anderen durchaus Gedanken, ob es hier einen „Tiefen Staat“ gebe. Auf die Frage von NEX24, wie der Politikberater und Autor das Aufklärungsversprechen von der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bewertet, antwortet dieser, seine anfängliche Hoffnung habe sich in eine Desillusion gewandelt.
Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.
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