Von Ertugrul Sahin
Eine Sache, über die ich mich in jüngster Zeit sehr stark wundere, ist die Unübersetzbarkeit von bestimmten sprachlichen Konzepten. Klar, das betrifft eigentlich jeden Austausch zwischen den Sprachen, es gibt immer irgendwie einen Bedeutungsverlust, aber manchmal wundert man sich wirklich sehr über schlichtweg fehlende Worte.
Zum Beispiel das Kunstwort „sitt“, also das Wort für „undurstig“ und somit das Gegenteil zu „durstig“, so wie es „satt“ als Gegenteil zu „hungrig“ gibt. Es fehlt einfach: So ein Wort gibt es im Deutschen nicht, dabei ist es doch eigentlich noch wichtiger als „satt“. In anderen Sprachen, im Schwedischen, gibt es das Wort beispielsweise.
Aber speziell ein Wort fehlt mir im Deutschen, wenn ich als Müsliman meine religiösen Vorstellungen ausdrücken möchte: Sevap. Es gibt kein deutsches Wort, auch kein englisches Wort, das das Wort adäquat wiedergibt, weder im Englischen noch im Deutschen. Paraphrasiert heißt es eigentlich die gute Tat, das Gegenteil von „Sünde“ also. Wieso gibt es in der christlichen Welt nicht das Gegenteil von Sünde? Wie kann dieses Wort einfach fehlen? Das verblüfft mich jedes Mal. Man kann es nur umschreiben, dann aber ziemlich schwammig und völlig uneinheitlich. Im Deutschen wie im Englischen hat man dasselbe Problem, oder wie es einst in einem der unzähligen Foren über dieses Thema formuliert wurde:
„English does not have a precise word for the opposite of sin in the sense you mean, so you’ll have to be content with adjectives: the opposite of „I committed a sin“ would be „I performed a good/virtuous/righteous/moral/meritorious act/deed“. (Note that the noun forms of these adjectives won’t work: goodness has a very wide range of meanings; virtue refers to qualities inhering in a person and carries no connotation of action unlike virtuous act which does, etc.)“
Womöglich hängt es schlicht mit der christlichen Konzeptionierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott zusammen: Der Mensch – sündig geboren und am Sündigen – muss Sühnen durch Beichte etc. (hier natürlich stark katholizistische Vorstellungen). Man fängt also mathematisch gesprochen bei „- x“ an und muss daraus idealweise irgendwann eine positive Zahl machen. Defizite streichen. Fehler ausmerzen. Es geht quasi darum, die von Beginn an negative Zahl auszugleichen, wobei hier natürlich im mathematischen Sinne negative Zahl + negative Zahl = positive Zahl nicht gilt.
Im Islam sieht die Gleichung der Taten völlig anders aus, ja sogar genau andersherum: Erbsünde gibt es nicht, die wurde nach islamischer Vorstellung vergeben, und neben „Sünde“ ist auch das Gegenteil sevap konzeptionalisiert. Man kann sevap umschreiben als „gute Tat“, besser vielleicht als „religiöser Pluspunkt“, das unübersetzbare Gegenteil von Sünde halt. Und mehr noch:
Unter sevap ist nicht nur das Gegenteil von Sünde konzeptualisiert, es gilt auch eine mathematische Inequivalenz hin zur sevap (= religiösem Pluspunkt). Klar, es gibt die großen Sünden (Mord, Ehebruch etc.), die ziemlich viel Sünde/ religiöse Negativpunkte einbringen, aber schaut man sich an, wie viel sevap (= religiöse Pluspunkte) im Sinne von positiven Zahlen man durch einfachste Handlungen im Alltag gewinnen kann – also nach islamischem Glauben jetzt – merkt man einen überaus positiven Grundzug: Nicht die „Sünde“, sondern sevap (= gute Tat/ religiöser Pluspunkt) steht im Fokus des islamischen Glaubens. Das werde ich im Folgenden genauer ausführen.
Zunächst als Hintergrundinfo: Für sunnitisch wie schiitisch gesinnte Muslime – und damit nahezu für alle Muslime – gilt einerseits das Befolgen der Gebote des Koran und andererseits das Nacheifern dem Vorbilde des Propheten – eigentlich aller Propheten – als sevap (= religiöser Pluspunkt). Das Leben unseres Propheten wiederum ist durch die Hadithe („Sunna“) festgehalten und darin werden im Prinzip alltäglich-basale Handlungen beschrieben, denen es nachzueifern gilt. Ließt man den Koran und die Hadithe, stellt man fest: Überall im Alltag steckt easy gain sevap, z.B. bei nachbarschaftlicher Hilfe, beim Pflanzen pflanzen, beim sparsamen Essen und Trinken, beim gesunden Ernähren, beim Gedenken und Erinnern an Allah (z.B. durch Dankbarkeit gegenüber allem, was man besitzt: Gesundheit, Glück etc.), beim Lesen des Koran oder von anderen Büchern, denn „sich bilden“ gilt auch schon als sevap, wie folgende Hadith illustriert:
„Acquire knowledge, because he who acquires it in the way of the Lord performs an act of piety; who speaks of it, praises the Lord; who seeks it, adores God; who dispenses instruction in it, bestows alms; and who imparts it to its fitting objects, per- forms an act of devotion to God. Knowledge enables its possessor to distinguish what is forbidden from what is not; it lights the way to Heaven; it is our friend in the desert, our society in solitude, our companion when bereft of friends; it guides us to happiness; it sustains us in misery; it is our ornament in the company of friends; it serves as an armour against our enemies. With knowledge, the servant of God rises to the heights of goodness and to a noble position, associates with sovereigns in this world, and attains to the perfection of happiness in the next.“ (Hilyat al-Awliya, 1, S. 238-239)
Neben vielen credo- und glaubensbezogenen Dingen (Beten, Fasten, Pilgerfahrt, Zakat etc.) gibt es also auch auch bei vielen nicht primär credo-bezogenen Dingen wie bei der Bildung, beim Arbeiten, Heiraten, durch das Erfreuen von Kindern (hierzu siehe die Enes-Hadithe des Propheten zum Beispiel) sevap. Und nicht nur gegenüber Muslimen: In den Hadithen kann man rekonstruieren, wie unser Prophet ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu seinen jüdischen und christlichen Nachbarn pflegte und auch vertrauensvoll-harmonisch mit ihnen zusammenlebte. Beispielsweise nahm unser Prophet Kredit von jüdischen Pfandleihern entgegen (vgl. auch Blogeintrag 53):
„Aischa, Allahs Wohlgefallen auf ihr, berichtete: „Der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, kaufte von einem Juden Lebensmittel auf Kredit und ließ bei ihm sein eisernes Panzerhemd als Pfand zurück.“ (vgl. Sahih Buhari, Kapitel 32, Hadith 2068/ 2509)
Kurzum: Immer dann, wenn Muslime gut handeln, helfen, sparen, friedlich mit Nachbarn koexistieren, beten, sich pflegen, gesund ernähren, kriegen sie „positive Punkte“ auf ihr Konto. Und dabei mit einem mathematisch hochinteressanten boni-System – man schaue sich beispielsweise folgende Hadith an, um die mathematische Dimension der Sünden und sevap (= religiösen Pluspunkte/ guten Taten) zu erfassen (aus Sahih Muslim, 235):
„The Messenger of Allah (saws) said that Allah Subhanah Says: When it occurs to My bondsman that he should do a good deed but he actually does not do it, I record one good deed for him, but if he puts it into practice, I make an entry of ten good acts in his favour. When it occurs to him to do evil, but he does not commit it, I forgive that. But if he commits it, I record one evil deed against his name. The Messenger of Allah (saws) said the Angels said: That bondsman of yours intends to commit evil, though His Lord is more Vigilant than he! Upon this He (the Lord) said: Watch him; if he commits (evil), write it against his name, but if he refrains from doing it, write one good deed for him, for he desisted from doing it for My sake. The Messenger of Allah (saws) said: He who amongst you is of good faith, all his good acts are multiplied from ten to seven hundred times (and are recorded in his name) and all the evils that he commits are recorded as such (i.e. without increase) until he meets Allah.“
Ein schlechter Gedanke zählt also noch nicht als Sünde, wohingegen ein guter Gedanke als sevap zählt, ja mehr noch: Selbst die Nicht-Tat trotz schlechter Gedanken zählt als sevap. Und all die Multiplikatoren, von 10 bis 700fach bei sevap, aber bloß Faktor „1“ bei der Sünde. You know what I mean? All das führt doch letztlich zu der Konsequenz, dass die Gleichung der menschliche Tatenabsolut positiv ist, quasi eine diophantische Gleichung der Form 10x + 1y = Bilanz, beziehungsweise sogar 700x + 1y = Bilanz. „x“ dabei natürlich als Variable für sevap (= gute Tat) und „y“ für günah/ haram (= Sünde).
Welche Werte letztlich für x und y eingesetzt werden, entscheiden natürlich die menschlichen Taten. Ist die Lösungsmenge eine natürliche Zahl, thumbs up, ist sie ganzzahling-negativ, nicht gut (auch wenn es sehr wahrscheinlich keine wirklich diophantische Beziehung sein dürfte…). Der springende Punkt ist: Die easy gain-Mentalität für sevap (= religiösen Pluspunkt/ guten Tat) ist klar ersichtlich und absolut markant. In den Hadithen gibt es übrigens eine ganze Reihe solcher „mathematischer“ Elemente, also Vervielfachungs-Multiplikatoren für sevap, so z.B. auch für das Gebet in der cemaat/ Gemeinde (d.h. ab 2+ Personen), dann gilt das Gebet als 27x mehr sevap.
Hinzukommt, dass der am meisten genannte Name Allahs – im Koran und in allen Gebeten – rahman (= Barmherziger/ Allvergebender) ist. Das heißt: Selbst im worst case-Szenario, wenn man also nicht wirklich eine positive Bilanz aufweisen kann, ist da immer noch die Option, beziehungsweise Tendenz Allahs zur Vergebung. Prinzipiell ist im Islam die Reue ebenfalls mit sehr hohen boni versehen. Allerdings: Hier spielt die Transzendenz-Lehre im Islam eine wichtige Rolle. Allahs Beweggründe können wir als Menschen nicht verstehen, weder durch Analogiebildung zum menschlichen Denken und Fühlen („Vaterliebe“), noch durch logische Schlüsse. Wir haben lediglich eine Richtlinie:
Den Koran, und quasi handlungspraktische Hinweise, die Sunna. Das heißt also, dass letzten Endes keine verlässlichen Kalkukierungen gemacht werden können – das will ich gar nicht behaupten, sondern auf den zum Positiven hin tendenziösen Grundzug im Islam hinweisen. Es ist keine Folter-und-Rache Religion, sondern ein Glaube mit Fokus auf die positiven Züge des Menschen und der Hoffnung auf Vergebung.
Einige weitere Taten, die für Muslime als sevap gelten, seien aufgeführt: Zähne putzen, Sport machen, Körperpflege, das Einparfümieren – all das gibt religiöse Pluspunkte. Im Gamer-Jargon sind also überall Achievements und Belohnungen, einfache Quests und ein ständiges level up. Gemäß Sunna (d.h. in den Hadithen) hat unser Prophet beispielsweise Sport getrieben oder gutgeheißen (Ringen, Bogenschießen, Reiten), sich die Zähne ständig geputzt (mit einer Miswak), Wert auf einen guten Körpergeruch und Körperrasur gelegt, ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis mit Muslimen sowie Nicht-Muslimen geführt (wie oben aufgeführt).
Die Liste ist schier endlos weiterführbar, wenngleich eine klassische Salondebatte unter Muslimen sein dürfte, wie eng man das handlungspraktische Vorbild unseres Propheten verstehen sollte („Gilt auch das Zähneputzen mit eine Zahnbürste als sevap oder muss es eine Miswak sein?“). Für all das und noch mehr bekommen Muslime ihrem Glauben nach jedenfalls sevap (= religiöse Pluspunkte), da ja das Nacheifern den Taten des Propheten als der wünschenswerte modus operandiangesehen wird. Und aus humanistischen Gesichtspunkten macht es ja absolut Sinn, Gesundheit, soziales und ethisches Verhalten der Menschen mit Pluspunkten zu versehen.
Eigentlich – mein Fazit für heute: Der Islam ist überaus humanistisch und leicht verdaulich, die sevap-Bedingungen sind nicht nur menschengerecht fair, sondern sogar mathematisch stark begünstigt. Im Fokus sind Vergebung und sevap – Strafe gibt es ohne Frage auch, aber obiges Zitat verdeutlicht ja eigentlich glasklar, dass das Verhältnis der Strafe zur Belohnung inequivalent ist, kurzum: Ethisch korrektes Verhalten und allzu-menschliche Handlungen werden nur so überhäuft mit Pluspunkten.
Zu guter Letzt` vielleicht noch ein politisch korrekter Hinweis: Das Christentum wollte ich gar nicht schlecht machen, lediglich aufzeigen, dass es zwischen beiden Religionen einen markanten Paradigmenwechsel hinsichtlich basaler Gottgefälligkeitsmechanismen gibt. Die Zirkulation zwischen Sünde & Sühne im Christentum hat ja auch sehr faszinierende Dynamiken entwickelt, die Aufopferung Jesu als immer wiederkehrender Topos für Liebe etc.
Der Fokus liegt auf Leid, Schmerz, Tod, Sünde und der Sühne – hier bin ich jedoch womöglich stark anachronistisch von russisch-orthodoxen Vorstellungen geprägt, weil ich sehr gerne Tolstoi, Gogol, Dostojewski, Gorki etc. lese. Kein Wunder also, dass die gesamte abendländische Philosophie und Kunst von Leid und Mitleid, Trauer und Melancholie geprägt ist, von Schopenhauer bis Dostojewski, von Chopin bis Bach. Und natürlich der ultimative Zenit: Diablo 2. Im Abendland ist die Melancholie und Trauer zur Hochkunst erhoben worden und hat wunderbare Melodien und Melodramen, Bilder und Bücher geschaffen. Exempli gratia: Spanische Kathedralen – wunderschön und unheimlich zugleich.
Letzten Endes sehe ich im christlichen und muslimischen Weltbild zwei sich komplettierende, völlig unterschiedliche Perspektiven. Wie traurig wäre die Welt, wenn es eine der beiden Vorstellungswelten nicht gäbe.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.