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Kommentar: Leit- oder Leidkultur?

Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei entbrannte in Deutschland zunächst die sogenannte Integrationsdebatte, die durch die Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière zur „deutschen Leitkultur“ fortgesetzt wurde. In regelmäßigen Abständen debattieren wir über diesen überholten Leitkultur-Begriff. Aber bringt uns die Diskussion weiter, wenn wir fast jährlich darüber streiten?

(Archivfoto: AA)
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Wieso der Leitkultur-Begriff obsolet ist

Von Yasin Baş

Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei entbrannte in Deutschland zunächst die sogenannte Integrationsdebatte, die durch die Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière zur „deutschen Leitkultur“ fortgesetzt wurde. In regelmäßigen Abständen debattieren wir über diesen überholten Leitkultur-Begriff. Aber bringt uns die Diskussion weiter, wenn wir fast jährlich darüber streiten?

Leit- oder Leidkultur?

Ich störe mich an dem Begriff “Leitkultur”, da er anfällig für aus- und abgrenzende sowie herabsetzende Debatten ist. Das Wort besitzt somit einen antipluralistischen Beigeschmack und richtet sich in erster Linie an die Einwanderer, und zwar allen voran Muslime. Wir könnten uns auf einen alternativen Begriff einigen, der für jeden Menschen die Möglichkeit bietet, sich mit Deutschland und den Grundsätzen unserer Verfassung, mit Menschenrechten, Gleichberechtigung, Gleichheit und Verschiedenheit(!), Teilhabe, Meinungs- und Religionsfreiheit, Respekt, Anerkennung, Pluralismus, Gerechtigkeit, Rechtstaatlichkeit usw. zu identifizieren.

Die Diskussion in Deutschland läuft leider immer noch über die Abgrenzung zum vermeintlich „Fremden“. Solange wir nicht begreifen, von einem gemeinsamen „Wir“ zu sprechen und immer nur zwischen „Wir“ und „Ihr“ trennen, uns also über den „Anderen“ definieren, können wir diese Diskussion vor jedem Wahlkampf weiterführen und uns endlos im Kreis drehen. Identitätskonflikte führen nicht selten dazu, die vorhandenen Spannungen auf Kosten anderer Menschen auszutragen. Durch die Abwertung des „Anderen“ wird das eigene „Ich“ aufgewertet. In der Leitkulturkontroverse sind ähnliche Beobachtungen möglich.

Identitätsachterbahn von uns Deutschen

Die Einheit des Deutschen Reiches 1871 hat eine gesamtdeutsche Identität hervorgebracht. Leider wurde diese Identität in Teilen durch völkisches und ethno-nationalistisches Gift morsch. So kam es zu zwei großen Weltkriegen, in denen diese Identität Schaden nahm. Die Weimarer Republik als erste deutsche Demokratie wurde als „Republik ohne Demokraten“, „Demokratie ohne Demokraten“ oder „improvisierte Demokratie“ bezeichnet. Extreme Rechte und linke Parteien sowie konservative Eliten haben sich nicht wirklich mit der demokratischen Staatsform identifiziert. Nach der Machtergreifung durch Hitler erlebten wir Deutschen erneut ein „Identitätskarussell“, das in eine Katastrophe, totale Niederlage und Zerstörung mündete.

Die von den alliierten Siegermächten verordnete neue Demokratie, die sogenannte „Zweite Republik“ musste erneut eine neue – diesmal atlantisch-europäische – Identität schaffen. Diese neue Identität sollte vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges“ heranwachsen. Für die Deutschen aus dem Osten waren die Deutschen, zu denen auch eigene Verwandte und Bekannte gehörten, nun auf einmal „Klassenfeinde“. In Westdeutschland übernahmen die Bürger der DDR diese Rolle.

Die Wiedervereinigung und der Mauerfall riefen erneut eine Achterbahn der Identitätsgefühle hervor. Auch jetzt wurde wieder ein Gegenpol gesucht und gefunden: Ausländer und Geflüchtete. Der 11. September 2001 mündete wieder in einer neuen Identitäts- und Kulturdebatte. Diesmal ging es um „Muslime“ und den „Islam“ als Gegenpol zum so genannten „christlich-jüdischen Erbe“. Seit der Flüchtlings- und EU-Krise (Griechenland, Rechtspopulismus, Brexit usw.) werden wir in Deutschland wohl wieder in unsere Identitätsachterbahn steigen müssen. Mal sehen, wohin uns die Fahrt diesmal hinführt. Zu hoffen ist nur, dass wir bei der Fahrt nicht entgleisen.

Eine Gemeinschafts- und Friedenskultur anstatt Leitkultur

Leben bedeutet auch Weiterentwicklung, Veränderung und Anpassung an die Realitäten der Zeit. Assimilationspolitik, Realitäts- und Erkenntnisverweigerung aber auch Belehrungsgehabe und Paternalismus erschweren es, einen Konsens zu finden. Die Ausgrenzung und Diskriminierung in vielen Bereichen des gesellschaftlichen, beruflichen und politisch-kulturellen Lebens können eine Gemeinschaftskultur und Gemeinschaftsidentität behindern. Unser Grundgesetz gibt uns eine Richtschnur. Wenn wir uns an diese halten, brauchen wir keine „Führungs- oder Leitkultur“, die, seitdem Bassam Tibi das Wort in den 90ern prägte, zu einer Leidkulturdebatte ausartet. Eine Gemeinschafts- und Friedenskultur ist besser als jede Leit- und Leidkultur.


Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.