Istanbul (nex) – Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU hat sich als Erfolgsgeschichte erwiesen – vor allem für Europa. Die Zahl der Flüchtlinge, die es geschafft haben, sich von der Türkei aus auf den Weg in die EU zu begeben, ist seit Inkrafttreten der Vereinbarung drastisch gesunken, in Deutschland stehen mittlerweile zahlreiche Aufnahmeeinrichtungen leer.
Vor allem die Ägäis-Route, auf der zuvor hunderte Menschen gestorben waren, die sich mit Schiffen auf den gefährlichen Weg gemacht hatten, um griechische Inseln zu erreichen, ist fast vollständig unter Kontrolle und die türkischen Sicherheitskräfte verhindern erfolgreich versuche, über diesen Weg nach Europa zu gelangen.
Nun will die Türkei aber auch die vonseiten der EU versprochenen Gegenleistungen für die Abschirmung hunderttausender Flüchtlinge in Anspruch nehmen – neben der Zahlung eines Kostenbeitrages von bis zu sechs Milliarden Euro und einer Beschleunigung des Beitrittsprozesses war der Türkei in diesem Zusammenhang vor allem die Ermöglichung einer visafreien Einreise für türkische Staatsangehörige zugesichert worden.
Die EU will entgegen ihrer Zusage, diese bis spätestens 30. Juni umzusetzen, mit der Visafreiheit nun jedoch weiter zuwarten. Grund dafür ist, dass die EU die von ihr gestellten 72 Bedingungen für die Visafreiheit noch nicht als restlos erfüllt ansieht.
Insbesondere verlangt Brüssel von Ankara eine Änderung ihrer Antiterrorgesetzgebung – eine Forderung, die von der türkischen Regierung vor dem Hintergrund des aktuellen Kampfes gegen gleich mehrere terroristische Bedrohungen als völlig unrealistisch betrachtet wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat der EU deshalb am Dienstag in Aussicht gestellt, dass die Türkei aus bestehenden Verträgen dem 28-Staaten-Block aussteigen könnte.
„Wenn es bis zum 30. Juni zu keinem Ergebnis kommt [im Sinne der Visaliberalisierung] kommen sollte, wird das Rücknahmeabkommen nicht im Parlament ratifiziert“, kündigte Erdoğan an. In diesem Fall würde die Türkei auch ihre Grenzen in Richtung EU wieder öffnen. „Busse und Flugzeuge stehen nicht zur Dekoration herum.“ Wie die Zeitung Daily Sabah herausgefunden hat, hat sich die Nachricht von der Möglichkeit eines Scheiterns des Flüchtlingsdeals längst auch bis zu den Flüchtlingen selbst herumgesprochen.
Die Konsequenz daraus ist, dass immer mehr Flüchtlinge sich wieder Gedanken über mögliche Routen und Alternativen zur Einreise in die EU machen, wo sich bereits jetzt die Familienangehörigen und Verwandten vieler von ihnen aufhalten. Türkische Medien interviewten einige Flüchtlinge und deren Aussagen bestätigten, dass in vielen Flüchtlingsfamilien bereits seit längerem beratschlagt werde, ob man sich auf den Weg machen soll in Länder wie Belgien oder Deutschland, wo Verwandte leben, und so getrennte Angehörige miteinander wiedervereinigt.
Einige bereiten sich dabei auch auf eine lange Wanderschaft vor, die unter anderem den Libanon als Zwischenstation vorsieht, wo viele derzeit in der Türkei untergebrachte Flüchtlinge ebenfalls Verwandte haben.
Ein 15-jähriges Mädchen, das darauf wartet, dass Deutschland ihr die Zusammenführung mit ihrer Familie ermöglicht, erklärt: „Die Entscheidung dauert zu lange. Sollte es in naher Zukunft für uns eine Möglichkeit geben, zu gehen, dann schwöre ich bei Gott, ich werde gehen.“
Auch die Verkäufer von Rettungswesten, deren Umsatz in diesem Bereich in den letzten Monaten gegen Null gesunken ist, beginnen langsam, sich auf ein allfälliges Scheitern der Gespräche vorzubereiten.
Ein syrischer Flüchtling, Fazin, der in der Türkei als Kellner arbeitet, erklärt, er habe sich noch nicht auf den Weg gemacht, weil Winter war. „Aber jetzt im Sommer werde ich jede Gelegenheit, die sich eröffnen würde, nutzen, um nach Europa zu gelangen.“ Die Aussicht, dass der Deal bald scheitern könnte, beunruhigt ihn nicht, im Gegenteil: Mit Blick darauf, dass fast alle seine Freunde und Bekannten sich schon auf den Tag vorbereiten, an dem die Türkei ihre Grenzen nach Europa öffnet, erklärt er, er bete darum, dass das Abkommen zwischen der Türkei und der EU scheitert.
Der 12-jährige Mohammed sagt, dass sein Vater entscheiden werde, ob sie sich auf die lange Reise machen werden oder nicht, sein Traum und Hoffnung seien aber Deutschland.