Kilis (nex) – Während man im ostdeutschen Clausnitz ankommende Flüchtlinge durch fremdenfeindliches Gejohle noch zum Weinen bringt oder aufgrund eines Flüchtlingsanteils im einstelligen Prozentbereich sich mit deutschlandweiten „Wir-sind-das-Volk-Spaziergängen“ Montag für Montag in Rage versetzt, macht eine kleine türkische Stadt, die dreimal so viele syrische Flüchtlinge aufnahm, als sie an Bevölkerung hat, international positiv von sich reden. Welt-Stars wie der irische Sänger Bono oder die US-Schauspielerin Angelina Jolie haben die Stadt schon besucht und in höchsten Tönen von ihr gesprochen.
Angela Merkel und eine ausländische internationale Delegation werden am 23.4.16 in die Türkei reisen und Kilis sowie die geleistete Flüchtlingsarbeit inspizieren.
Die Bevölkerung von Kilis bewirbt sich mit ihrem Beitrag zur Flüchtlingskrise um den Friedensnobelpreis.
Der Abgeordnete für Kilis und stellvertretende Vorsitzende der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Ayhan Sefer Üstün, hatte die syrische Grenzstadt, die er in der Großen Nationalversammlung vertritt, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Der amtierende Gouverneur der Stadt, Süleyman Tapsız brachte seine Bewunderung für diese einzigartige Stadt in einem Schreiben, das an die Delegation gerichtet ist, zum Ausdruck.
Nachrichtenexpress dokumentiert dieses Schreiben im Wortlaut
„Sehr verehrte Damen und Herren,
im Stadtzentrum leben gerade einmal 93 000 Menschen. Die Provinz selbst liegt im Südosten des Landes und teilt sich mit Syrien eine Grenzlänge von 111 km. Es ist die kleinste Provinz der Türkei, ihr Name – Kilis.
Im politischem Tagesgeschäft dieser Welt hat sich diese kleine Provinz längst einen wohl verdienten Namen gemacht. Weit über ihre eigenen Kapazitäten hinaus war sie imstande, dreimal so viele syrische Flüchtlinge aufzunehmen, als sie an Bevölkerung hat. Es ist kaum mit Worten zu beschreiben, was diese kleine Provinz und ihre Einwohner seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien leisten.
Seit Kriegsbeginn suchen noch immer Tausende vom Krieg gezeichnete Menschen, Junge, Alte, Frauen, Kinder und Männer mit zum Teil weniger als der Kleidung auf ihrem Leib, zum Teil barfuß, Zuflucht in Kilis. Jeder dieser Menschen trägt seine eigene Geschichte vom Krieg in sich. Darunter auch ein achtjähriges kleines Mädchen, das sich gezwungenermaßen ohne seine Familie auf die Flucht begeben musste. Traumatisiert erzählt sie von ihren Erlebnissen wie:
“Meine Eltern waren im Zimmer nebenan, eine Bombe fiel auf unser Heim. Ich sah, wie meine Eltern und mein kleiner Bruder in den Flammen dahinschmolzen. Ich konnte nicht einmal weinen. Ich kann es immer noch nicht.”
Ein anderer Flüchtling erzählt, wie eine Bombe seinen linken Arm zerfetzte, und er zwischen all dem Rauch und Qualm nach Hause lief, aber dass da kein Zuhause mehr stand. Mit Hilfe seiner Nachbarn habe er es bis hierhin geschafft. Im Flüchtlingscamp von Öncüpınar leben mitlerweile 15 000 Flüchtlinge, zum Elbeyli-Camp haben es 25 000 geschafft, ins Zentrum von Kilis, wo 90 000 Menschen leben, haben es 130 000 Flüchtlinge geschafft. Doch das ist längst nicht alles. Der Gouverneur von Kilis hat das umgesetzt, was die Türkei seit Februar 2014 der EU vorschlägt.
Kilis hat selbst eine Schutzzone für Flüchtlinge in Syrien eingerichtet und zusätzlich zehn Flüchtlingscamps aufgebaut, die für 100 000 Menschen eine Zuflucht gewährleisten. Seit fünf Jahren schon und ohne ein großes Aufheben zu machen oder gar sich zu beklagen, kümmert sich die Bevölkerung von Kilis um 230 000 syrische Flüchtlinge.
Man teilt sein Essen und lässt seine Gastfreundschaft spüren. In manchen alten Steinhäusern von Kilis, in denen dreißig bis vierzig syrische Flüchtlinge leben, sind im Laufe der Zeit Freundschaften gewachsen. Man begegnet sich mit Reife, Geduld und Achtsamkeit im Umgang mit dem Anderen.
Niemand in Kilis nimmt Anstoß an der Sprache des Anderen, seiner Herkunft, Nationalität oder gar seiner anderen Religion. Auf den Straßen begrüßen sich vertraute Gesichter, Syrer und Türken lächeln sich freundschaftlich an und grüßen sich. Niemand wird hier ausgeschlossen, diffamiert oder gar diskriminiert. Warum auch? In der Tradition und dem Verständnis des “Ensar – Muhacir” der gemeinschaftlichen Hilfe für Hilfsbedürftige, haben die Bewohner von Kilis nicht nur einfach ihre Türen und Häuser für die Neuankömmlige geöffnet, sondern auch ihre Herzen.
Auf den Straßen von Kilis hört man längst sehr viel Arabisch. Das stört weder die Bevölkerung noch die Regierenden. Warum auch?
Um derart viele syrische Flüchtlinge aufnehmen und sich um sie kümmern zu können, bedarf es eines gemeinschaftlichem Willens und sehr viel Organisationstalent. Das hat allen voran der Gouverneur von Kilis in die Hand genommen.
Das gemeinsame Leben mit den Flüchtlingen ergab sich dann von ganz allein. Hand in Hand haben die verschiedenen Ministerien gearbeitet. Der türkische Katastrophenschutz AFAD hat gemeinsam mit dem Innen-, dem Außen-, dem Gesundheits-, dem Bildungs- und Familienministerium sowie dem türkischen Halbmond entscheidend zum Gelingen dieser neuen Aufgabe beigetragen.
Wenn Sie die Bevölkerung von Kilis fragen, wie denn ihr Verhältnis zu den Syrern sei, bekommen Sie in der Regel immer nur eine Antwort und die zeugt von Reife und versetzt westliche Journalisten stets ins Staunen:
“Das Leid, das Menschen überall auf der Welt widerfahren kann, nimmt uns in die Pflicht, es motiviert uns immer wieder aufs Neue, gütig zu sein, uns des Hilfesuchenden zu erbarmen und mit diesen Menschen besonders behutsam umzugehen. Wir sind Erben einer Kultur, in der Geiz, Egoismus und Unbarmherzigkeit nie einen Platz hatten. Uns wurde stets gelehrt, an der Seite der Waisen, Bedürftigen und Unterdrückten zu sein. Wir sind stolz auf diese kulturellen Werte.
Die Flüchtlinge, die in Kilis oder zum Teil in den Camps leben, sind nicht unsere Gäste, sie sind Miteigentümer unserer Häuser und Höfe. Jedes Baby, das hier geboren wird, ist auch unser Kind, jeder Soldat, der auf der anderen Seite fällt, auch unser Sohn. Wir können diesen Menschen, die mit ihren Kindern und Familien um ihr Leben fliehen, doch nicht sagen: ‚Kommt bloß nicht zu uns!‘
Von unseren Ahnen haben wir gelernt und verinnerlicht, dass, wer seine eigene Würde nicht verlieren will, den Bedürftigen mit Achtung begegnen muss.”
Bitte versetzen Sie sich für nur einen Moment in die Lage dieser Menschen. Vergegenwärtigen Sie sich, Sie müssten in ein fremdes Land fliehen und Sie wären in diesem Land nicht willkommen. Sie wären rassistischen Übergriffen ausgesetzt, hätten kein eigenes Dach über dem Kopf, dürften oder könnten nicht arbeiten, weil man Ihnen schlicht keine Arbeit gäbe.
Vielleicht waren Sie in Ihrem Land ein gut situierter Bürger, vielleicht sogar ein Geschäftsmann, jetzt aber wären Sie auf Almosen angewiesen und langsam würde Sie das Gefühl beschleichen, nutzlos und ein Nichts zu sein. Wie würden Sie sich fühlen? Was würden Sie machen, wenn Sie verdammt dazu wären, hilflos, tagtäglich in die verweinten Augen Ihres Kindes blicken zu müssen?
Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie Ihr Kind verlören, nur weil keine helfenden Hände es am Leben halten konnten? Sehen Sie, und damit all das den Flüchtlingen erspart bleibt, keiner hilflos leiden oder zusehen muss, ist die Bevölkerung von Kilis fest entschlossen, tatkräftig zu helfen. Es erfreut uns, dass die Menschen in den Camps ‚Öncüpınar‘ und ‚Elbeyli‘ von Kilis nicht in einfachen Zelten leben müssen.
Sie bewohnen komfortable Container mit Warmwasserversorgung – rund um die Uhr und die Menschen werden medizinisch versorgt, erhalten drei warme Mahlzeiten am Tag und können sich weiter- und fortbilden. Hier sind wir traurige Zeugen von Assads Krieg. Unter den Verletzten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, befinden sich neben den Erwachsenen auch Kinder, die ein Bein oder einen Arm verloren haben.
Neben einem Kleinkind, das vom Knöchel ab seinen Fuß verloren hat, liegt auch eine Schwangere. Ihr Ungeborenes wurde von einer Kugel getroffen, es weiß, wie sich Krieg anfühlt, bevor es überhaupt geboren wurde. Im städtischen Krankenhaus von Kilis, das seit März 2012 über 700 000 Syrer versorgt hat, wurden unter anderem über 47 000 Flüchtlinge operiert. Neben all diesem Leid gibt es auch Erfreuliches. Elftausend syrische Babys haben hier in Kilis das Licht der Welt erblickt.
Es ist an der Zeit die Leistungen der türkischen Regierung und die der Bewohner von Kilis entsprechend zu würdigen. Das psychologisch-soziale Hilfsangebot, Kitas, Vorschulen, Grund- und weiterführende Schulen, Sprachangebote sowie Einkaufsmöglichkeiten, Waschsalons, ein Notdienst für Strom- und Wasserversorgung, Pflasterwege, sichere Ein- und Zufahrten zu den Camps, digitalisierte Personalausweise sowie das monatliche Taschengeld von immerhin 85 Lira, welches regelmäßig ausgezahlt wird, sind nur einige wenige Beispiele dafür, die dazu beitragen sollen, das Leben der Flüchtlinge zu erleichtern.
Für die gesamten Schulkosten schulpflichtiger Kinder, die verwaist oder Halbwaisen sind, kommt der Staat auf. Es wird sehr darauf geachtet, dass der Schulunterricht ohne Ausfälle stattfindet. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder, die entweder in den Camps oder im Zentrum der Stadt beschult werden, beläuft sich inzwischen auf 30 000.
Es erfüllt uns mit großer Freude, wenn ausländische Beobachter, die diese Camps besuchen, immer wieder erstaunt feststellen, dass diese Einrichtungen einmalig auf der Welt seien.
Die Türkei, die zur Versorgung dieser Menschen bislang über zehn Milliarden Dollar ausgegeben hat, hat vom Ausland nur einen Zuschuss von 417 Millionen Dollar erhalten. Somit kann man sagen, dass die türkische Bevölkerung 96% dieser Kosten selbst geschultert hat.
Leidtragende des Krieges sind jedoch nicht nur Syrer. Auch Kilis und seine Bevölkerung wurden immer wieder von Bomben und Granaten getroffen. Raketen, die ins Stadtzentrum von Kilis fielen und sogar auf den Schulhof einer Schule, haben zahlreiche Einwohner das Leben gekostet und ebensoviele Bürger verletzt.
Vermutlich wären manche anderen Länder, deren Bevölkerung durch den Krieg im Nachbarland selber zu Schaden kam, und die sogar Tote und Verletzte zu beklagen hätten, den Kriegsflüchtlingen gegenüber nicht ganz so freundschaftlich verbunden wie wir es trotz allem sind, denn das Volk von Kilis ist anders.
Kein einziger Vorwurf, kein Gräuel gegenüber den Flüchtlingen, keinerlei Schuldzuweisung, denn für uns ist es – angesichts dieser menschlichen Tragödie – eine Frage des Anstandes, diesen Menschen gegenüber solidarisch zu sein. Wer zum Leid von zig Millionen Menschen in Syrien schweigt, wer tatenlos zusieht, wie Menschen nicht einmal mehr das Geringste zum Leben haben, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, vor Krieg fliehen oder unter Trümmern sterben, von Raketen und Bomben getötet werden, macht sich mitschuldig an diesem Drama.
Wir, die Bewohner von Kilis zumindest vertreten diese Auffassung.
In dieser schwierigen Zeit ist es die Stadt Kilis, die wie keine andere Stadt dieser Erde Verantwortung gegenüber diesen Flüchtlingen zeigte. Und Kilis ist einzigartig. Die Zahl der Flüchtlinge, die sie aufgenommen hat, übersteigt längst die Zahl ihrer ursprünglichen Einwohner. Keine andere Stadt hat im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Kilis.
Die Bevölkerung von Kilis, die ihre Speisen, Häuser und Schulen, Krankenhäuser und Parkanlagen, kurz: ihre Stadt mit den syrischen Flüchtlingen teilt, zeigt in der Summe Gastfreundschaft auf höchster Ebene, denn es sind ehrwürdige Bürger.
Voltaire hatte es treffend formuliert, „Wir sind verantwortlich für das, was wir tun, aber auch für das, was wir nicht tun.”
Tausenden Menschen dieser Erde wird tagtäglich großes Leid zugefügt. Um so dringender ist es, statt zu jammern und zu klagen, endlich Gutes und Sinnvolles zu tun. Es ist längst an der Zeit, uns an das zu erinnern, was uns Menschen ausmacht, die Menschlichkeit in uns.
Es ist das Mindeste, wenn wir die integrative Leistung und den herzlichen Umgang dieser Stadt mit den Flüchtlingen entsprechend honorieren.
Sowohl im Koran, dem Buch der Muslime, als auch in der Bibel, dem Buch für die Christen und im Alten Testament, das seine Gültigkeit für Juden hat, finden wir sinngemäß ein Zitat mit allgemeingültiger Aussage. Diese lautet, “Wer auch nur ein Menschenleben rettet, hat quasi die gesamte Menschheit gerettet.”
Und genau aus diesem religiösen Grund ist unser Handeln motiviert. Dass wir den Hilfsbedürftigen – unabhängig von seiner Herkunft, seiner Sprache und seiner Religionszugehörigkeit – helfen, rührt von diesem religiösem Verständnis, das allen monotheistischen Religionen zugrunde liegt, her.
Der bekannte Künstler, Alaattin Yavaşça, der selbst aus Kilis stammt, hat es in einem Lied, das er den Bewohnern von Kilis gewidmet hat, sehr treffend formuliert, “Sie sind bekannt für ihre Großzügigkeit, sind tapfer gleich Helden, ihre Gastfreundschaft und ihre Nächstenliebe legendär.”
Einst hob auch der Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, das Besondere dieser Stadt hervor. In seiner Dankesrede am 28. Oktober 1918, konstatierte er, “Als ich zum ersten Mal nach Kilis kam, war ich überwältigt von der außergewöhnlichen Klugheit und Reife seiner Bewohner. Und ich versichere Ihnen, so lange es solche Menschen gibt wie Sie, wird kein Leid geschehen und dieses Volk niemals untergehen.
Mit meinen allerbesten Wünschen und Grüßen an die Bewohner von Kilis.
Gouverneur von Kilis, Süleyman Tapsız
Übersetzt aus dem Türkischen ins Deutsche, Zerrin Konyalıoğlu.