Von Henriette Wild
Manchmal frage ich mich, ob unsere Welt überhaupt noch atmet. Kaum öffnet man das Handy, prasseln neue Schlagzeilen auf einen ein. Eine Überschrift schlimmer als die andere. Kaum hat man eine verarbeitet, steht schon die nächste in dicken Buchstaben auf dem Bildschirm. Es fühlt sich an, als würde niemand mehr innehalten, nicht einmal für einen Moment.
Besonders deutlich wurde mir das wieder, als die tragische Nachricht von der Familie Böcek aus Istanbul bekannt wurde. Eine ganze Familie wurde aus dem Leben gerissen.
Diese Menschen waren noch nicht einmal unter der Erde, da tauchten schon die nächsten Schlagzeilen auf: Weitere Todesfälle, neue Verdachtsfälle auf Vergiftungen, neue Katastrophen. Ein schreckliches Unglück jagte das andere, und das alles innerhalb weniger Stunden.
Ich finde das sehr erschreckend. Nicht nur wegen der Tragödien selbst, sondern wegen der Eile, mit der wir sie konsumieren. Es bleibt kaum Zeit, überhaupt zu begreifen, was da passiert ist. Es entsteht kaum Raum für Mitgefühl, kaum Raum für Trauer. Und viel zu selten nehmen wir uns die notwendige Zeit, über die Menschen hinter den Schlagzeilen nachzudenken.
Jede dieser Meldungen ist mehr als ein kurzer Moment im Nachrichtenticker. Da stehen Familien dahinter, Nachbarn, Freunde, Leben, die plötzlich stillstehen. Und wir? Wir scrollen weiter. Nicht, weil wir herzlos wären, sondern weil uns dieser ständig rasende Nachrichtenstrom dazu zwingt, Schritt zu halten.
Dabei wäre genau jetzt etwas anderes nötig: Ein kurzer Halt. Ein Atemzug. Ein Moment, in dem wir uns wirklich mit dem Geschehen befassen, statt einfach weiterzugehen. Unsere Gesellschaft hat das schnelle Reagieren perfektioniert, aber das bewusste Fühlen scheint dabei irgendwo auf der Strecke geblieben zu sein.
Vielleicht sollten wir wieder lernen, die Welt für einen Moment leiser zu drehen. Nachrichten nicht nur zu lesen, sondern zu würdigen. Ein bisschen länger bei einem Schicksal zu verweilen, bevor wir das nächste anklicken. Nicht wegschauen, aber auch nicht jagen.
Denn wenn Mitgefühl keine Zeit mehr bekommt, leidet am Ende nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch unsere Fähigkeit, aus all dem etwas zu lernen.
Zum Thema
– Tragödie in der Türkei –
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In Istanbul-Fatih kam nun auch Servet Böcek, der wegen Verdachts auf Lebensmittelvergiftung seine Frau und zwei Kinder verloren hatte und auf der Intensivstation behandelt wurde, ums Leben.


































































