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Schule von Salamanca: Vorbild für die Türkei?

Die sogenannte „Schule von Salamanca“ war kein offizielles Institut, sondern ein geistiges Netzwerk rund um die Universität Salamanca im Spanien des 16. Jahrhunderts.

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Von Çağıl Çayır

In der Geschichte der Menschenrechte wird oft auf die Französische Revolution oder die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verwiesen.

Die Schule von Salamanca

Doch lange vor diesen politischen Umbrüchen entstand in einer kleinen spanischen Universitätsstadt ein intellektueller Aufbruch, der den Weg zu einer universellen Ethik ebnete: die Schule von Salamanca.

Ihr Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte ist tiefgreifend – und oft übersehen. In ihrer Philosophie spiegelt sich ein trans-religiöses, vielleicht sogar meta-religiöses Denken, das auch als Vorbild für moderne Staatsgründungen wie die der Türkei unter Atatürk gesehen werden kann.

Ein moralisches Erwachen im 16. Jahrhundert

Die sogenannte „Schule von Salamanca“ war kein offizielles Institut, sondern ein geistiges Netzwerk rund um die Universität Salamanca im Spanien des 16. Jahrhunderts.

Ihre führenden Denker – Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Luis de Molina oder Francisco Suárez – waren Theologen, Philosophen und Juristen, die sich mit den politischen, wirtschaftlichen und moralischen Herausforderungen ihrer Zeit auseinandersetzten.

Der Kolonialismus, die Eroberung Amerikas, der Umgang mit den indigenen Völkern sowie das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht standen im Zentrum ihrer Debatten.

Besonders Francisco de Vitoria formulierte grundlegende Gedanken, die später als Vorläufer des modernen Völkerrechts und der Menschenrechte gelten. In seinen berühmten „Relectiones“ über die Rechte der Indianer stellte er eine provokante Frage: Haben die amerikanischen Ureinwohner Rechte – unabhängig davon, ob sie Christen sind? Seine Antwort: Ja.

Die Rechte der Indianer – Eine Revolution des Denkens

Vitoria widersprach der damals verbreiteten Auffassung, dass die spanische Krone über die neu entdeckten Völker herrschen dürfe, weil diese „Heiden“ seien. Für ihn war klar:

Die Indianer seien vollwertige Menschen, mit Vernunft, Eigentum, Sprache, Sitte und politischer Organisation. Daraus folge, dass sie Träger von Rechten seien – ganz gleich, ob sie das Christentum annähmen oder nicht.

Diese Position war revolutionär. Vitoria berief sich dabei nicht allein auf kirchliche Dogmen, sondern auf eine natürliche Vernunft – die allen Menschen innewohne. Er sprach von einem universellen Naturrecht, das sich aus dem Menschsein selbst ergebe. Damit überwand er die dogmatische Sichtweise, dass Rechte nur aus dem Glauben oder der Kirche resultierten.

Penn’s Treaty with the Indians. Pennsylvania Academy of Fine Arts, Philadelphia

Trans-religiöses Denken – eine frühe Form universeller Ethik

Was die Schule von Salamanca besonders macht, ist ihre transzendente Ethik. Ihre Vertreter argumentierten im Rahmen des Christentums – aber überstiegen dessen konfessionelle Grenzen. Ihre Idee des ius gentium (Recht der Völker) basierte auf natürlicher Vernunft und Gerechtigkeit, nicht auf kirchlicher Zugehörigkeit. Damit wurde das Recht trans-religiös: Es galt für Christen wie Nicht-Christen, für Europäer wie Indianer.

Dieser Ansatz war meta-religiös, weil er eine Ebene jenseits konkreter Religionen eröffnete – ohne die Religion selbst zu verwerfen. Er war keine Leugnung des Glaubens, sondern eine höhere Integration: Religion als Ausdruck einer universellen Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist. Diese Haltung erinnert an später entwickelte Ideen von Gewissensfreiheit, Menschenwürde und Gleichheit – lange bevor diese Begriffe politische Allgemeingültigkeit erlangten.

Ein Vorbild für die moderne Türkei?

Auch in der Türkei lässt sich ein trans-religiöser Impuls erkennen – besonders in der Gründungsphilosophie der Republik unter Mustafa Kemal Atatürk.

Die Trennung von Religion und Staat war hier keine Feindschaft gegenüber der Religion, sondern ein Versuch, eine überkonfessionelle, universelle Ethik zu etablieren – ähnlich wie bei Vitoria.

Atatürk sprach nicht von einem „gottlosen Staat“, sondern verlegte das Heilige vom Himmel ins Gewissen des Menschen. Er sah die Quelle des Rechts nicht in einer bestimmten Religion, sondern in der Würde, Vernunft und Verantwortung des Einzelnen.

So wie die Schule von Salamanca den Glauben mit der Vernunft verband, verband Atatürk die Wissenschaft mit dem ethischen Erbe vieler Kulturen – einschließlich des Islams – zu einer neuen Ordnung. Die Türkei wurde kein Gottesstaat, aber auch kein bloßer Materialismus. Sie wurde ein Modell, in dem Religion als moralische Ressource verstanden wird, aber nicht über dem Gesetz steht.

Ein Erbe für die Zukunft

Die Schule von Salamanca ist ein Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte. Sie erinnert uns daran, dass wahre Gerechtigkeit nur dann möglich ist, wenn wir den Menschen nicht nach Herkunft oder Glauben, sondern nach seinem Menschsein beurteilen. Ihre Philosophie ist weder exklusiv religiös noch säkularistisch – sondern trans-religiös: Sie übersteigt Unterschiede, um das Gemeinsame zu finden.

In einer Zeit wachsender Polarisierung zwischen Religion und Säkularismus bietet das Denken der Salamanka-Schule – wie auch die Gründungsidee der Türkei – ein Modell für einen neuen Humanismus: ein Recht aus Vernunft, Gewissen und Verantwortung.


Zum Autor

Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlicht.