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Kommentar
Saudi-Arabien – der Bauchnabel des Nahen Ostens

Derzeit ereignen sich im Nahen Osten beinahe parallel zueinander mehrere, zukunftsweisende diplomatische und politische Beben - mit dem Zentrum Saudi-Arabien.

(Foto: dts)
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ein Gastbeitrag von Michael Thomas

Derzeit ereignen sich im Nahen Osten beinahe parallel zueinander mehrere, zukunftsweisende diplomatische und politische Beben – mit dem Zentrum Saudi-Arabien. Nichts ist heute, wie es vor wenigen Jahren noch war; Allianzen bilden sich, andere zerbrechen und es wird nicht lange dauern, bis der gesamte, Nahe Osten ein völlig neues Gesicht hat

Es scheint die Zeit gekommen, etwas genauer hinzuschauen.

Saudi-Arabien hat als Kunststaat, der vor Beginn des 20. Jhd. keine eigene, geschweige denn nationale Geschichte hat und sozusagen mit Feder und Papier in London entwickelt und ins Leben gerufen worden ist, einen atemberaubenden Start hinter sich, hetzte durch eine Zeit märchenhaften Reichtums, wurde kaum Herr seiner Sinne und steht nun wieder einmal vor völlig neuen Herausforderungen.

Al Saud: Keine demokratischen Verhältnisse erwarten

Der heute amtierende König, Salman bin Abdulaziz Al Saud, galt als Wegbereiter des Landes, der die traditionelle Stammesstruktur des Reiches in eine neue Zeit überführen würde. Er selber hatte erklärt, dass man Saudi-Arabiens Natur anerkennen müsse und keine demokratischen Verhältnisse von seinem Land erwarten dürfe, eben da die Struktur der Stämme dagegenstünde. Ebenso wären soziale Reformen nur spärlich umzusetzen. So wirkte er im Innern stabilisierend und verteidigte die althergebrachten Strukturen, während er nur kleinere Reformen zugestand.

Unter seiner Ägide, kraft seiner Entscheidung, begannen Militäraktionen in Bahrein und der Kampf gegen die Houthi im Jemen. Bei diesen Gelegenheiten erwies sich das Netzwerk, dass er in seiner vormaligen Zeit als Gouverneur Riads mit anderen, arabischen Staaten gegründet hatte, als nützlich. Es waren diese Erfolge in seiner früheren Zeit, die ihm kurz vor dem Tode seines Bruders, Kronprinz Nayef bin Abdulaziz den Rang des Kronprinzen einbrachte, da man sein diplomatisches Geschick erkannt hatte. 

Dennoch steht der König für eine Phase, die von einer engen, strategischen und militärischen Partnerschaft mit den USA gekennzeichnet war. Beide Mächte hingen direkt voneinander ab; die USA waren auf garantierte, stabile und gleichmäßige Ölversorgung und auf eine gewisse Stellvertreterfunktion im Nahen Osten angewiesen und Saudi-Arabien entwickelte seine Position im eigenen Umfeld durch den raschen Aufbau eines großen, mödernen und starken Militärapparats, welcher exklusiv von den USA gestellt wurde.

Nun ist der amtierende König Salman in die Jahre gekommen und die politischen Verhältnisse haben sich dramatisch verändert. Faktisch hat er weite Teile seiner umfassenden Macht an seinen Sohn, den bereits zum Kronprinzen ernannten Mohammed Bin Salman (kurz immer als „MBS“ erwähnt), abgegeben.

Durch die jüngsten Verirrungen und Verwirrungen um die diplomatischen Bestrebungen des saudischen Königshofes, maßgeblich von MBS initiiert, reagieren die USA verstört. Noch kann der Präsident Biden nicht realisieren, dass eine für die USA tatsächlich gefährliche Entwicklung in Gang gesetzt wird und er lässt deshalb noch immer kolportieren, dass die USA mit dem „saudischen König“ bestens kooperieren würden.

Das aber wiederum wird in Saudi-Arabien mit größter Erleichterung aufgenommen, denn so wird dem Land eine „Bestrafung“ oder gar Ächtung wegen des brutalen Mordes an dem kritischen Journalisten Jamal Kashoggi durch MBS erspart. MBS scheint sich von dem Skandal um diesen Mord tatsächlich politisch vollständig erholt zu haben.

MBS wurde bei einem Spaziergang mit einer Ausgabe von Machiavellis „Il Principe“ („Der Fürst“) unter dem Arm entdeckt, was im Nahen Osten zumindest mit schiefem Lächeln aufgenommen wurde. Denn das Werk des italienischen Philosophen legt jedem Fürsten das Ergreifen jeden tauglichen Mittels nahe, welches Erfolg verspricht. Ob Angst, Erpressung, Lüge, Mord, Folter oder was auch immer. Nahöstliche Beobachter finden diese Führungsphilosophie in MBS in perfekter Umsetzung vor. Wörtlich las ich, dass MBS den Mord an Kashoggi keinesfalls bereue, sondern lediglich aus dem Skandal gelernt habe, dass derartige Exekutionen künftig anders abgewickelt werden müssten.

MBS führt Saudi-Arabien in ein neues Zeitalter. Es wird gekennzeichnet sein von der Entfremdung und Abnabelung von den USA, die sich in jüngster Vergangenheit als extrem unzuverlässig gezeigt hatten. Die Geschäfte gehen sowieso bereits schlechter und man sieht sich an alte Zusagen definitiv nicht mehr gebunden. So kündigte man im Rahmen der OPEC geradezu achselzuckend und völlig gleichgültig Drosselungen der Ölförderung und eine allgemeine Preisanhebung für Öl an – obschon man vergleichsweise kurz vorher den USA das Gegenteil in Aussicht gestellt hatte.

Die Allianz zwischen China und Saudi-Arabien ist für die USA eine weitere, in ihrer Auswickung kaum zu bewertende Katastrophe. Denn sie enthält für die USA einen extrem heftigen Schlag: MBS „entdollarisiert“ das Energiegeschäft; bereits jetzt werden Liefergeschäfte mit China nicht mehr in Dollar, sondern in chinsesischer Währung abgewickelt. Saudi-Arabien startet eine gewaltige Kooperation im Nordwesten Chinas mit dem Aufbau großer, nennenswerter petrochemischer Anlagen.

Damit verlieren die USA große Teile der Kontrolle, die sie über internationale Geschäfte bisher mit ihrem Dollar ausüben konnten. Jetzt fließen nicht Milliarden, sondern auf Sicht bald Billionen durch Geschäfte nicht mehr in Dollar. Und an dieser Idee finden immer mehr Staaten sowohl im Nahen Osten, als auch weltweit immer mehr Geschmack: der Handel wird stärker „entdollarisiert“. Dadurch emanzipiert MBS Saudi-Arabien und erlangt in kurzer Zeit mit wenigen Schritten einen starken Zustrom an Macht und Einfluss.

Ihm wird es auch wohl zuzuschreiben sein, dass die Anfänge von „Normalisierungsgesprächen“ mit Israel, noch unter dem amtierenden König begonnen, auf Null abgewürgt worden sind. MBS wirbt mit seinem Rückzug aus diesen Gesprächen um noch mehr Solidarität mit seinen arabischen Nachbarn. Denn dort ist längst bekannt, dass all diese „Normalisierungen“ mit Israel nicht nur keinerlei Rückhalt in den Bevölkerungen haben, sondern zumeist auf Unwillen, Ablehnung, Kritik und Wut treffen.

MBS kann sich von Israel entfernen und die „Palästinafrage“ neu aufleben lassen. Immerhin ist Saudi-Arabien „der Hüter der heiligsten Moscheen des Islam“ und hat tatsächlich neben einem politischen auch ein religiöses Problem mit Israel, welches es nun durch und mit MBS direkt auf die Tagesordnung heben und sich damit den Applaus der arabischen Bevölkerungen sichern kann.

MBS hat persönlich weder eine Vision, noch glaubt er an Werte

Er wird kein Reformer und, noch weniger, ein Heilsbringer sein, wenn er den Thron besteigt. Er wird als „gewissenlos“ bezeichnet und scheut ganz sicherlich keine Brutalität oder Grausamkeit. Er wird die schrecklichen Todesurteile entweder gar nicht oder nur dann verhindern, wenn er dadurch massiv politisch und strategisch Zugewinne einfährt.

Aber er wird Saudi-Arabien tatsächlich in ein völlig neues Zeitalter schicken. Ihm ist das Näherrücken der „Nach-Öl-Zeit“ schmerzlich bewusst und so muss er schon jetzt den Weg in eine Zeit moderieren, die seinem Land Macht, Reichtum und Einfluss auch weiterhin erhält.

Ihm ist völlig klar, dass dies nur ohne die USA und nur mit bisher für unmöglich gehaltenen Bündnissen gelingen kann.

Viele Menschen werden auf diesem Weg zu sterben und zu leiden haben, aber Saudi-Arabien wird ihn gehen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.

Zum Autor 
Michael Thomas ist Privatier, Fotograf, leidenschaftlich an Ägyptologie und Literatur interessiert, mit der er vor vielen Jahren als Autor regional einige Beachtung fand. Er verfolgt interessiert das Weltgeschehen durch Beobachtung internationaler Presse. Seinen Fokus legt er insbesondere auf die Palästinafrage und auf die islamische Welt.