Start Politik Ausland Oleg Kuznetsov „Türkei kann Transitland für russisches Gas nach Europa werden“

Oleg Kuznetsov
„Türkei kann Transitland für russisches Gas nach Europa werden“

Ankara, vertreten durch Präsidenten Erdogan und seine engsten Verbündeten, hat sich trotz des auf sie ausgeübten Drucks von außen wiederholt geweigert, eine Wahl zwischen Moskau und Kiew zu treffen, und sowohl Russland als auch die Ukraine als ihre Partner bezeichnet.

(Foto: nex24)
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Ein Gastbeitrag von Prof. Oleg Kuznetsov – Historiker

In jüngster Zeit ist die Türkei zu einem der fünf Länder geworden, die in der russischen Presse weltweit am häufigsten erwähnt werden, was zweifellos auf ihre Sonderstellung in Bezug auf die militärpolitische Situation um die Ukraine zurückzuführen ist. Und das ist nicht verwunderlich, wenn wir die Äußerungen und Aktionen der politischen Führung des Landes im Zusammenhang mit dem „ukrainischen Sturm“ zusammenfassen.

Ankara, vertreten durch Präsidenten Erdogan und seine engsten Verbündeten, hat sich trotz des auf sie ausgeübten Drucks von außen wiederholt geweigert, eine Wahl zwischen Moskau und Kiew zu treffen, und sowohl Russland als auch die Ukraine als ihre Partner bezeichnet. Die Türkei ist das einzige Land unter den NATO-Mitgliedsländern, das sich den antirussischen Sanktionen nicht angeschlossen hat und darüber hinaus das Handelsvolumen im Handel mit Russland stetig erhöht, was ihm sehr oft dabei hilft, die Wirtschaftssanktionen und –beschränkungen, die auf Russland von der Europäischen Union, dem britischen Commonwealth und den Vereinigten Staaten auferlegt werden, zu umgehen (in Russland wird dies heute als „Parallelimport“ bezeichnet).

Besonders aufschlussreich war Ankaras Position in der Frage der NATO-Erweiterung auf Kosten Schwedens und Finnlands, in deren Zusammenhang Ankara, nachdem es das Thema ihres NATO-Beitritts mit ihrer Position in der Kurdenfrage verknüpft hatte, gegen ihren Beitritt zum Nordatlantik Allianz tatsächlich ein Veto einlegte. Finnland hat bereits angekündigt, dass es die Grundsätze seiner Außenpolitik nicht zugunsten der Mitgliedschaft in der NATO kompromittieren wird, und damit anerkannt, dass die Türen dieses militärisch-politischen Blocks, solange die Türkei darin ist oder solange Präsident Erdogan an der Spitze dieses Landes steht, ihm verschlossen sind.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der westeuropäischen Presse zunehmend Veröffentlichungen von Experten erscheinen, die Ankara vorwerfen, mit dem Kreml befreundet zu sein und der „russischen Aggression“ in der Ukraine nachzugeben.

Wenn Sie die Gesamtheit der oben genannten Ereignisse aus der Sicht Russlands betrachten, mit der ich sie betrachte, dann fallen sofort mehrere völlig rationale und sogar wirtschaftliche Gründe (oder makroökonomische Faktoren) ein, die die Position Ankaras in der Ukraine-Frage erklären. Ich werde versuchen, sie so politisch korrekt wie möglich zu formulieren, um niemandes Gefühle zu verletzen, aber gleichzeitig nicht gegen die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand zu versündigen.

Erstens ist die Türkei aufgrund der natürlichen und klimatischen Bedingungen objektiv nicht in der Lage, ihre Ernährungssicherheit zu gewährleisten, hauptsächlich in Bezug auf die Getreideproduktion – Weizen für Brot, Gerste für Bier und Viehzucht. Dessen ist sich Erdogans Regierung durchaus bewusst. Die traditionellen Lieferanten derartiger Agrarprodukte für den türkischen Binnenmarkt waren Russland und die Ukraine, weshalb sich Ankara nicht eindeutig auf die Seite Moskaus oder Kiews stellen kann, will und wird, um die Diversifizierung der Rohstoffquellen aufrechtzuerhalten und sich nicht von der momentanen geopolitischen Lage abhängig machen.

Aus diesem Grund ist die Türkei heute der wichtigste und eigentlich einzige Moderator der Verhandlungen, auf dessen Meinung der Kreml bei der Lösung der Frage der Blockade des Exports von ukrainischem Getreide aus den Häfen der nördlichen Schwarzmeerregion, in Übereinstimmung mit zuvor abgeschlossenen internationalen Verträgen, hören könnte.

Gleichzeitig befindet sich Ankara in einer äußerst unbequemen und zweideutigen Lage: Einerseits kann es aufgrund der Getreideabhängigkeit nicht nach dem Vorbild von Ländern, die Restriktionen gegenüber Russland eingeführt haben, Druck auf den Kreml ausüben.

Andererseits kann die Türkei auch nicht ihre eigenen Interessen und ihre Ernährungssicherheit opfern, um vor dem Hintergrund von 80 Prozent Inflation nicht zusätzlich von einer Nahrungsmittelknappheit und damit einhergehenden Brotunruhen in Städten konfrontiert zu werden.

Zweitens wurde die Türkei unter den Bedingungen, als die saisonal geplanten technischen Arbeiten an der Nord Stream-Gaspipeline begannen und das Gaspumpen nach Europa durch sie erheblich reduziert wurde, für einige Zeit situationsbedingt maximal davon profitierend zum Andererseits kann die Türkei auch nicht ihre eigenen Interessen und ihre Ernährungssicherheit opfern, um vor dem Hintergrund von 80 Prozent Inflation nicht zusätzlich von einer Nahrungsmittelknappheit und damit einhergehenden Brotunruhen in Städten konfrontiert zu werden.auf die westeuropäischen Märkte. Sie hat die Möglichkeit in dieser Funktion zu bleiben, solange solcher Zustand dem Kreml und Gazprom hinter seinem Rücken entgegenkommen wird.

Die Türkei kann für den Transit durch ihr Hoheitsgebiet sowohl Sach- als auch Barzahlungen erhalten, was ihr die Möglichkeit für ein makroökonomisches Manöver unter Bedingungen einer nicht sehr stabilen Konjunktur auf dem Inlandsmarkt gibt. Die Exploration von Kohlenwasserstoffreserven auf dem türkischen Schelf in der Ägäis bedeutet keineswegs deren schnelle Entwicklung und Inbetriebnahme auf industriellem Ebene, selbst mit umfassender Unterstützung des strategischen Verbündeten Aserbaidschans, der in dieser Angelegenheit über reiche Erfahrung verfügt. Folglich ist die Loyalität gegenüber dem Kreml oder zumindest die Erhaltung und Entwicklung von Partnerschaften mit Russland heute eine Garantie für die Türkei und sogar ein Treiber für innere Stabilität.

Atomkraftwerk Akkuyu

Drittens kann man einen so globalen makroökonomischen Faktor wie den Bau des KKW Akkuyu durch Rosatom, der die Unabhängigkeit und Selbstversorgung der Türkei in der Elektrizitätsindustrie garantieren wird, nicht außer Acht lassen (Heute ist die Türkei gezwungen, Strom von fast allen ihren kleinen Nachbarn, darunter Aserbaidschan und Georgien, zu importieren). Präsident Erdogan will und wird angesichts der militärpolitischen Lage um die Ukraine ein solches strategisches Projekt und das Wohl künftiger Türkengenerationen offensichtlich nicht aufs Spiel setzen, um seinem Land nicht die geopolitische und makroökonomische Perspektive zu nehmen.

Es sei erwähnt werden, dass sich die NATO-Verbündeten der Türkei aus der oben genannten Gründen für Ankaras „abweichende Meinung“ in der Ukraine-Frage, die sich von der kollektiven Meinung anderer Mitglieder von der Union (mit der möglichen Ausnahme von Ungarn) unterscheidet, hinreichend bewusst sind und daher kommen sie auf offizieller Ebene nicht mit ihrer öffentlichen Verurteilung hervor. Sie starten keine massive Propagandakampagne gegen Ankara, um es weltweit zu diskreditieren, wie die, die sie heute gegen Russland führen. Das heißt aber nicht, dass die Türkei aufhört, eine „Achillesferse“ für die NATO zu sein, nicht nur in der Ukraine-Frage.

Verschärfung der türkisch-griechischen Beziehungen

Heute erleben wir alle eine tiefe Verschärfung der türkisch-griechischen Beziehungen, die nicht nur auf politischen oder religiösen Widersprüchen beruhen, multipliziert mit gegenseitigen historischen Missständen, die nach vielen Jahrzehnten und einem Generationswechsel vergeben und vergessen werden konnten, sondern rein pragmatische und wirtschaftliche Gründe im Zusammenhang mit der Kontrolle über neu erforschten Kohlenwasserstoffvorkommen auf dem Schelf der Ägäis, deren Besitz die Türkei zu den regionalen Führern im östlichen Mittelmeer führten und Italien diesen Status nehmen würde. Und das bedeutet eine Umverteilung der Kräftevektoren nicht nur in Westasien und dem Nahen Osten, sondern auch in Südost- und sogar Mitteleuropa.

Solche Aussichten erschrecken die NATO und sind der Hauptgrund, warum die Vereinigten Staaten zusammen mit Griechenland auf einmal die Schaffung von vier Militärstützpunkten, zwei Luftstreitkräften und zwei Marinestützpunkten, auf den Inseln des Archipels angekündigt haben. Und obwohl sie eine solche Entscheidung damit rechtfertigen, dass sie der „russischen Bedrohung“ entgegentreten und erklären, dass diese Stützpunkte in keiner Weise gegen die Türkei gerichtet sind, ist sich Ankara bewusst, dass dies nicht der Fall ist. Das Hauptziel dieses Schritts ist die Eindämmung der politischen Ambitionen der Türkei auf regionale Dominanz und Widerstand gegen ihre Ansprüche auf den Untergrund des Ägäischen Schelfs.

Es ist absolut offensichtlich, dass die Türkei allein angesichts des durch den Konflikt in der Ukraine gefestigten Europas nicht in der Lage sein wird, all ihre Wünsche und Erwartungen ohne ernsthafte Unterstützung von außen zu verwirklichen. Sie kann es hier und jetzt nur von Russland erhalten, zusammen mit dem (plus Aserbaidschan) Ankara nicht nur in der Lage sein wird, die De-facto-Ressourcen der Ägäis zu sichern, sondern auch problemlos mit deren Entwicklung und Betrieb zu beginnen.

Russland und die Türkei sind also zu maximaler Annäherung und Zusammenarbeit bei der fortschreitenden globalen Transformation der Welt verdammt.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


Prof. Oleg Kuznetsov

Der russische Historiker Prof. Oleg Kuznetsov verfasste etwa 170 wissenschaftliche Studien und ist Autor des Buchs „Geschichte des transnationalen armenischen Terrorismus im 20. Jahrhundert: historisch-kriminologische Forschung„.


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