Von Benjamin Idriz
Während ich im Büro arbeite, – üblich wie zwischen zwei Gebete- läutet das Telefon. Eine Frau meldet sich, sie möchte anonym bleiben. Weinend bittet sie mich um Rat, wie sie sich verhalten soll: sie kommt sich wie eine Geisel ihres (Ex-)Mannes vor.
Beide hatten sich von einem Imam trauen lassen, ohne standesamtliche Eheschließung. Nach ein paar Jahren heiratete der Mann eine zweite Frau, wieder nur vor einem Imam. Nach einem Streit sagte er zu ihr: „Du bist geschieden!“, woraufhin sie das Haus verließ. Sie fing ein neues Leben an, wurde glücklich und zufrieden.
Nach mehreren Monaten, während sie getrennt voneinander in unterschiedlichen Städten gelebt hatten, spürte der Mann sie telefonisch auf und behauptete, dass seine Aussage nicht ernst gemeint gewesen wäre und sie folglich immer noch seine Ehefrau wäre. Das lehnte die Frau ab, erklärte, dass sie das Eheleben nicht mehr mit ihm teilen wolle, dass sie nun schließlich tatsächlich schon einige Zeit getrennt seien und sie einen anderen Mann suche, den sie dann standesamtlich heiraten werde. Darauf erwiderte er, dass eine Eheschließung auf dem Standesamt islamisch nicht korrekt sei, sondern nur die Ehe „vor Allah“ bei einem Imam gültig geschlossen würde. Die verzweifelte Frau wollte wissen, ob sie nun noch verheiratet oder geschieden sei!
Eine andere Frau rief an und wollte wissen, wie sie mit ihrem Mann umgehen dürfe, der sich zu ihr immer wieder gewalttätig verhielt. Ich bot ihr an, mit ihr ein gemeinsames Gespräch mit ihr und ihrem Mann an, worauf sie aber meinte, die traue sich nicht, ihrem Mann zu gestehen, dass sie mit einem Imam, also mit einem fremden Mann, telefoniert habe. Schließlich riet ich ihr, auf jeden Fall die Polizei einzuschalten, wenn ihr Mann gewalttätig würde – woraufhin sie empört reagierte: „A‘udhubillah! (‚Gott bewahre!‘)“ Wie könne ich als Imam ihr raten, Schutz bei der „ungläubigen“ Kuffar-Polizei zu suchen!
Eine weitere Frau wurde vor Jahren gerichtlich von ihrem Mann geschieden – doch der Mann weigert sich, die gerichtliche Scheidung zu akzeptieren und betrachtet sie weiterhin als seine Ehefrau, obwohl sie längst getrennt leben. Sie bat mich nun als Imam ein Scheidungsurteil auszusprechen. Ich erklärte ihr, dass ich kein Richter bin und mir das daher nicht zusteht. Nachdem ich mich von ihrem Scheidungsurteil überzeugte, bestätigte ich ihr, dass das Urteil klar und sie damit nach meiner Auffassung eindeutig geschieden sei.
Kurz danach rief mich ihr Ex-Mann an und warf mir wütend vor, was für ein Imam ich sei. Ich könne doch als Imam nicht das Urteil eines nicht-islamischen Gerichts akzeptieren… Er habe zwar inzwischen eine andere Frau geheiratet, aber die erste sei ebenfalls nach wie vor seine Frau.
Eine Konvertitin, fast vierzig Jahre alt, fragte nach, ob sie ohne Zustimmung eines „waly“, ihres „Vormundes“, also Vater oder Bruder, heiraten dürfe. Ich erklärte, dass sie selbstverständlich selbst zu entscheiden haben, wann sie wen sie heiraten wolle, und dass sie dazu keine Zustimmung der Eltern (oder des Bruders) bräuchte. Aber, erzählte sie irritiert, „ihr Scheich“, d.h. der arabische Imam ihrer Moschee, habe ihr erklärt, dass sie nicht ohne „waly“ heiraten dürfe und ihr Vater könne nicht als „waly“ gelten, weil er kein Muslim ist. Was solle sie nun tun?
Diese vier Fälle sind Beispiele für zahllose Gesuche von Frauen, die nicht nur mich, sondern viele Imame erreichen – und für die menschenunwürdige Hilflosigkeit, mit der viele muslimische Frauen konfrontiert werden.
An sie möchte ich mich hier ganz speziell wenden!
Deutschland ist Gott sei Dank ein Rechtsstaat. Die Richterinnen und Richter sind frei von ideologischen und politischen Einflüssen und von jeglichen Zwängen außerhalb der Gesetze. Der Staat ist verpflichtet, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Mit der islamischen Institution des „waly“, gemäß der prophetischen Überlieferung, soll nichts anderes bewirkt werden, als den Rechtsschutz der Betroffenen zu gewährleisten!
Laut einigen Rechtsschulen ist die Zustimmung des waly, des „Vormunds“, für die Eheschließung erforderlich, um die Obhut der Frau zu gewährleisten. Der Prophet hat den „waly“ vorgesehen, um die Rechte der Frau zu schützen. Weil damals kein Rechtsstaat existierte, wurde die stärkste Person mit der Obhut betraut. Der Koran selbst sieht die Zustimmung des waly nicht ausdrücklich vor, lässt die Frage also offen. Deshalb kennt die hanafitische Rechtsschule diesen Zwang zur Zustimmung nicht und überlässt die Entscheidung zur Eheschließung der Frau selbst. In unserer Zeit und Kultur übernimmt der Rechtsstaat den wünschenswerten Schutz und fungiert damit, islamisch gesprochen, als waly seiner Bürger und Bürgerinnen.
Die Eheschließung ist die Voraussetzung für das gemeinsame Eheleben. Sie ist aber im Islam kein „sakraler“ Vorgang, sondern ein gesellschaftlicher Vertrag zwischen zwei Menschen, Mann und Frau. Der Koran bezeichnet die Eheschließung als „festes Abkommen“ (miythak galijdh; Sure 4, Die Frauen, 12). Das bedeutet, dass darin verbindliche Bestimmungen festgeschrieben werden, die kompetent und zuverlässig aufgestellt werden müssen. Privatpersonen oder private Institutionen können das nicht leisten, sondern staatliche Institutionen, die die Ehepartner vor Manipulation und Missbrauch schützen.
Somit braucht die Eheschließung im Islam eine juristische Grundlage. Weder der Imam noch die Moschee haben die Befugnis dazu. Weder im Koran noch in den Hadithen steht, dass die Ehe „vor Allah“ geschlossen werden soll. Wenn in Moscheen oder Privaträumen ein Imam oder eine andere Person in Deutschland eine sogenannte Zeremonie zur Eheschließung vollzieht, dann ist das nicht mehr als eine „Segnung“. Sie hat keinen juristischen Boden in Deutschland, aber auch nicht im Islam. Wer sich nur von einem Imam trauen lässt, setzt seine Ehe aufs Spiel. Am meisten haben darunter dann die Frauen zu leiden.
Bei Anfragen betone ich als Imam immer wieder, dass es keine „islamische Ehe“ gibt, sondern nur einen „Ehevertrag“, der „festen Boden“, d.h. Rechtssicherheit braucht. Dafür sind in Deutschland die Standesämter zuständig. Nicht nur ist es wichtig, die Ehe in jedem Fall auf dem Standesamt zu schließen – diese Form der Eheschließung ist auch im islamischen Sinn richtig und korrekt. Wenn ich das den Partnern, die sich trauen lassen möchten, erkläre, dann ist es häufig die Frau, der diese Position einleuchtet und die dann ihren künftigen Ehemann dazu bewegt, die Ehe erst auf dem Standesamt und anschließend in der Moschee zu besiegeln. Manche Männer dagegen zeigen dabei immer noch Skepsis.
Ich kann nur an die Ehepartner appellieren, die Ehe ernst zu nehmen und die Trauung zuerst juristisch, also standesamtlich vorzunehmen. Danach kann sie dann von einem Imam gewissermaßen „abgesegnet“ werden. SO sehen es auch, soweit mir bekannt ist, die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina (hier in Deutschland IGBD) und die Diyanet-Behörde der Türkei (hier in Deutschland DITIB). Sie raten ihren Imamen ab, Trauungen vorzunehmen, solange die rechtliche Eheschließung nicht erfolgt ist. Ich appelliere an meine Kollegen, diese Regelungen einzuhalten um sich selbst so wie das Paar vor den möglichen Konsequenzen zu schützen!
Genau wie die Eheschließung ist auch die Ehescheidung ein juristischer Vorgang. Ein Imam ist nicht befugt, ein Urteil für oder gegen eine Scheidung zu fällen. Er kann, wie andere Menschen auch, nur Ratschläge geben, um eine Ehe zu retten und wie die Partner sich vielleicht aussöhnen können. Im islamischen Recht ist es der sogenannte Qadi, d.h. der „Richter“, der in zivilrechtlichen Angelegenheiten entscheidet, und damit auch für Eheschließung und Ehescheidung zuständig ist. Er nimmt in islamischen Ländern im Auftrag des Staates bzw. des Staatsoberhauptes die judikative Funktion wahr und richtet sich dabei nach dem islamischen wie auch dem positiven Normensystem.
Für Deutschland gilt demzufolge, dass den Gerichten die alleinige Kompetenz und Autorität zukommt, eine Ehe aufzulösen. Ehepartner müssen wissen, dass eine im Streit getroffene, bloße Aussage „Du bist geschieden“ weder islamisch oder moralisch noch juristisch von Bedeutung ist, solange sie nicht vor Gericht rechtskräftig wird. Eine Frau hat selbstverständlich das Recht, sich von ihrem Mann zu trennen, wenn sie die Ehe als unerträglich empfindet.
Der Weg dahin führt, genau wie umgekehrt, über die Gerichte. Dabei bleibt für beide Partner gleichermaßen immer zu berücksichtigen, dass eine Trennung bittere Konsequenzen nach sich ziehen kann – ganz besonders für die gemeinsamen Kinder. Deshalb ist aus islamischer Sicht die beste Lösung nicht eine Trennung, sondern immer die Versöhnung: „die Dinge auf friedliche Weise zwischen sich in Ordnung zu bringen; denn Frieden ist am besten“ (4:28).
Erschienen auf facebook
Benjamin Idriz
Benjamin Idriz dürfte der einzige Imam Deutschlands sein, der promovierter islamischer Theologe ist und zugleich auf deutsch schreibt. Beides – die Praxisbezogenheit des Seelsorgers und die wissenschaftliche Vertrautheit mit den Quellen – zeichnet sein neues Buch aus. Mit diesen Qualitäten ragt es aus einer wahren Flut von Veröffentlichungen aller Art über die „Frauenfrage“ im Islam wohltuend heraus.
Der Autor ist seit vielen Jahren weit über die oberbayerische Kleinstadt Penzberg, wo er als Imam wirkt, und über München, wo er das „Münchner Forum für Islam“ initiiert hat, bekannt: Sein Wirken und Schaffen gilt einem authentischen Islamverständnis, das mit den Wertvorstellungen der deutschen und europäischen Gesellschaft unserer Zeit nicht nur kompatibel ist, sondern die gemeinsamen Werte aus den Quellen des Islams – dem Koran und der Tradition der Propheten – ableitet.
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