Neue Spannungen zwischen der Türkei und den USA?
Ein Gastbeitrag von Kemal Bölge
Die Beziehungen zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten sind seit einigen Jahren wegen des Kaufs von russischen Flugabwehrraketen des Typs S-400 angespannt. Mit dem Amtsantritt Joe Bidens als 46. Präsident der USA scheinen sich die ohnehin schwierigen Beziehungen beider NATO-Staaten noch einmal zu verschärfen. Das Weiße Haus veröffentlichte am 28. Januar eine Mitteilung, der zufolge der Sicherheitsberater von Präsident Biden, Jake Sullivan, ein Telefongespräch mit Björn Seibert geführt habe, dem Kabinettschef von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Die USA und die EU betrachten die Türkei als neue Bedrohung
Bei dieser Unterredung unterstrich Sullivan die transatlantischen Beziehungen und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und der EU, um diese wiederzubeleben. Im letzten Satz der Mitteilung wird Bezug genommen auf China und die Türkei. Demnach einigten sich beide Seiten bei Fragen von beiderseitigem Interesse, wie dem Verhältnis zu China und der Türkei zusammenzuarbeiten.
Anders ausgedrückt, die Vereinigten Staaten und die EU werden neuerdings bei Konflikten wie im östlichen Mittelmeer, in Syrien, Libyen oder im Kaukasus gegenüber der Türkei eine gemeinsame Politik verfolgen. Darüber hinaus hatten die USA China bereits unter Trump als „Bedrohung“ bewertet und mit der Mitteilung des Weißen Hauses, auch wenn es nicht explizit erwähnt wird, kommt als weitere Bedrohung die Türkei hinzu. In Bezug auf China besteht zwischen Vorgängerregierung Trumps und der Biden-Administration der Unterschied darin, dass die neue US-Regierung gemeinsam mit der EU gegen Peking vorgehen möchte.
Forderung an die Türkei zum Abzug aus Libyen
Ein erstes Signal dieser Ankündigung war die Aufforderung des amtierenden US-Botschafters bei den Vereinten Nationen, Richard Mills, „alle externen Parteien, einschließlich Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE)“ sollten die libysche Souveränität respektieren und forderte den Abzug der Streitkräfte dieser Länder. Der Appell des US-Diplomaten ist insofern problematisch, weil sich die Anwesenheit von Einheiten der türkischen Armee in Libyen auf eine Bitte bzw. eine Vereinbarung der von den Vereinten Nationen anerkannten GNA-Regierung in Tripolis mit der türkischen Regierung stützt.
Im Gegensatz zur Türkei unterstützen Russland, die VAE, Ägypten und weitere Staaten den Putschisten und Warlord Haftar, der die rechtmäßige Regierung in Tripolis mit Waffengewalt stürzen möchte. Die USA stellen mit diesem Aufruf die Türkei und Russland auf eine Ebene, obwohl der Einsatz der privaten russischen Sicherheitsfirma Wagner und anderer Söldner in Libyen gegen internationales Recht verstößt, da Haftars Milizen ohne anerkannte Rechtsgrundlage handeln und damit illegal in Libyen agieren.
Nach dieser Logik müssten die USA auch von Russland verlangen, seine Streitkräfte aus Syrien abzuziehen, aber das würde Moskau auf den Plan rufen, da sich die russische Regierung bei der Stationierung ihrer Truppen auf ein Abkommen mit der syrischen Regierung beruft. Ferner halten die Vereinigten Staaten über die PKK/YPG etwa 30 Prozent von Nordostsyrien besetzt. Wenn die USA schon eine Forderung nach einem Abzug von ausländischen Truppen in Libyen stellen, dann sitzen die Adressaten in Moskau und in Abu Dhabi und nicht in Ankara.
Die US-Regierung sieht die Türkei nicht als Verbündeten
Kurz vor der Vereidigung von Joe Biden zum US-Präsidenten bezeichnete der neue Außenminister Antony Blinken den NATO-Verbündeten Türkei als „sogenannten strategischen Partner“ und hob wegen des russischen S-400 Flugabwehrsystems die Möglichkeit hervor, neue Sanktionen zu prüfen. In die gleiche Kerbe schlug auch Max Hofmann, der stellvertretender Direktor für nationale und internationale Politik am einflussreichen Center for American Progress ist. Die neue US-Administration würde die Türkei nicht mehr aus dem Blickwinkel eines „strategischen Partners“ betrachten, sondern als eine unabhängige Macht ansehen, die in „einfachen transaktionalen Begriffen behandelt“ würde.
Die USA stören sich an der Zusammenarbeit der Türkei mit Russland, da sie in Moskau eine „Gefahr für die transatlantische Sicherheit“ sehen, während die Vereinigten Staaten kein Problem damit haben, eine von der Türkei und der westlichen Staaten als Terrororganisation eingestufte PKK/YPG in Syrien massiv mit Waffen zu unterstützen. Die türkische Regierung betrachtet die Präsenz der PKK/YPG in Syrien als Bedrohung der nationalen Sicherheit und hat aus diesem Grund bereits mehrere grenzüberschreitende Militäroperationen gegen die Terrororganisation durchgeführt.
Technische Besonderheiten der S-300 und S-400
Das Vorgängermodell des Flugabwehrsystems, die S-300, befindet sich im Besitz von drei weiteren NATO-Staaten und kann Ziele bis zu einer Reichweite von 210 km sowie einer Höhe von 30 km treffen. Es ist für Ziele kurzer und mittlerer Reichweite gegen Angriffe mit ballistischen Raketen und gegen Luftangriffe konzipiert worden und das Radarsystem ist in der Lage, gleichzeitig 6 Ziele zu erfassen. Eine Weiterentwicklung ist die S-400, die gegen alle Arten von Luftzielen eingesetzt werden kann, einschließlich Flugzeuge, ballistische Raketen sowie Marschflugkörper.
Das Multifunktionsradar kann Ziele von bis zu 600 km Reichweite erkennen und gegen Angriffe von bis zu 400 km sowie 30 km Höhe abwehren. Ferner besitzt die S-400 die Fähigkeit, im Falle eines Luftangriffs gegen 36 Ziele gleichzeitig eingesetzt werden zu können. Nach Ansicht des Verteidigungsexperten James Bosbotinis ist das Multifunktionsradar der S-400 in der Lage, auch Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeuge wie die F-35 zu orten.
Die Statements und Erklärungen der neuen Biden-Administration in Bezug auf die Türkei lassen folgenden Schluss zu: Die Verantwortlichen der US-Regierung sehen in Ankara weder einen „strategischen Partner“ noch einen „Verbündeten“, denn die Interessen Washingtons und der Türkei sind in der Region zu unterschiedlich, als dass ein gemeinsamer Konsens gefunden werden könnte.
Die Bedenken der Vereinigten Staaten zum russischen Flugabwehrsystem S-400 sind in dieser Form nicht nachvollziehbar, weil drei weitere NATO-Staaten das Vorgängermodell des Flugabwehrsystems, die S-300, besitzen und die USA gegenüber diesen Ländern keine Vorbehalte geäußert haben. Griechenland hat zum Beispiel bei einer NATO-Übung 2020 in der NATO-Raketenabschussanlage auf Kreta den ersten Testschuss mit einer S-300 durchgeführt. Die S-300 Flugabwehrraketen auf Kreta sind in die NATO-Systeme integriert und erfüllen damit ihre Aufgabe. Die Türkei hat mehrfach die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur Kompatibilität des S-400 Systems und des F-35 Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugs mit den USA vorgeschlagen.
Ankara hatte vor dem Erwerb der S-400 mehrfach die Absicht bekundet, das US-Raketenabwehrsystem Patriot zu kaufen. Bei dem im Vergleich zum russischen Flugabwehrsystem wesentlich teureren Patriot-System wollte die amerikanische Seite einen Technologietransfer, wie die türkische Delegation es gefordert hatte, nicht akzeptieren, und das US-System sollte im Bedarfsfall nur von amerikanischen Technikern/Soldaten bedient werden. In diesem Fall müsste die Türkei den Vereinigten Staaten mitteilen, wo und gegen wen sie dieses System einsetzt und wäre auf die USA angewiesen.
Der US-Regierung geht es bei ihren Bedenken gegen das russische Raketenabwehrsystem im Prinzip darum zu verhindern, dass die Türkei ein eigenes modernes Flugabwehrsystem gegen feindliche Bedrohungen aller Art aus der Luft erlangt. Die Frage wäre, weshalb die Vereinigten Staaten sich gegen ein Raketenabwehrsystem Ankaras stellen. Die Antwort ist in den divergierenden Interessen beider Seiten in politischer, militärischer und strategischer Sicht in der Region zu suchen.
Eine Türkei, die unabhängig von der US-Regierung eigene sicherheitspolitische Entscheidungen treffen kann und bei der Nutzung von Waffen und Technologien auf die eigene Rüstungsindustrie zurückgreift, ist in den Augen der Vereinigten Staaten kein „Verbündeter“ mehr, sondern eine „Bedrohung“ für die Interessen der USA. Die CAATSA-Strafmaßnahmen, die im Dezember 2020 gegen die Türkei beschlossen wurden, waren ein erster Anhaltspunkt dafür, wie sich die USA die zukünftige politische Ausrichtung gegenüber der Türkei vorstellen.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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