Start Politik Ausland Analyse Syrien-Experte: Verlust von Tel Rifaat bedeutet Aus für PKK-Staat in Syrien

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Syrien-Experte: Verlust von Tel Rifaat bedeutet Aus für PKK-Staat in Syrien

In einer Analyse geht der Syrien-Experte Ömer Özkizilcik den jüngsten militärischen Zusammenstößen zwischen der kurdischen YPG und der Freien Syrischen Armee im Norden des bürgerkriegsgeschüttelten Landes nach.

Kämpfer der Opposition (Foto: FSA)
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Dortmund (nex/eurasia) – In einer Analyse für das türkische Nachrichtenportal „Suriye Gündemi“ geht der Syrien-Experte Ömer Özkizilcik den jüngsten militärischen Zusammenstößen zwischen der kurdischen YPG und der Freien Syrischen Armee im Norden des bürgerkriegsgeschüttelten Landes nach. Er skizziert die strategische Bedeutung der nordsyrischen Stadt Tel Rifaat. Die Kontrolle über die Ortschaft erlaubt es, neue strategische Ziele in der Region ins Visier zu nehmen.
Zwischen der nordsyrischen Provinzhauptstadt Aleppo und der Grenzstadt Azez liegt die strategisch wichtige Kleinstadt Tel Rifaat nur wenige Kilometer von der Ortschaft Mare entfernt, die wie Azez unter der Kontrolle protürkischer Rebellen der Freien Syrischen Armee steht. In den vergangenen Tagen sorgte die Stadt Tel Rifaat unter Kennern des syrischen Bürgerkrieges für Aufmerksamkeit. Sie ist Ausgangs- und Kulminationspunkt eines größeren Konflikts unter syrischen  Akteuren, die sich mit regionalen Kräften koordinieren.
In diesem Zusammenhang meldeten zahlreiche Nachrichtenagenturen unter Berufung auf den türkischen Generalstab, dass die Armee der Türkei in der Nacht zum vergangenen Donnerstag 160 bis 200 Kämpfer der kurdischen YPG-Organisation, die eine Ablegerin der terroristischen PKK ist, im Raum Tel Rifaat getötet habe. Dem geht zuvor, dass die Freie Syrische Armee im Rahmen der Operation „Schutzschild Euphrat“ gemeinsam mit der türkischen Armee die Terrormiliz IS aus der symbolträchtigen Stadt Dabik vertrieb. Diese gilt für IS-Kämpfer als spirituelles Zentrum, in dem laut islamischer Tradition eine apokalyptische Schlacht der „wahren Muslime gegen den Unglauben“ stattfinden werde.
Den Nimbus nutzend, rückten die FSA-Rebellen weiter südlich vor, bis die kurdische YPG anscheinend einen Wettlauf um IS-Territorium gen el-Bab einleiten und die FSA im Handstreich militärisch an der Bekämpfung des IS hindern wollte. Die FSA reagierte mit der Veröffentlichung einer Aufforderung an die Adresse der YPG, die Region um und Tel Rifaat selbst, das die Kurden-Organisation als Sprungbrett gen Osten nutzte, binnen 48 Stunden zu verlassen. Eine Missachtung der Aufforderung werde militärische Konsequenzen nach sich ziehen. Nach Bombardierungen durch die türkische Luftwaffe und Artillerie starteten die FSA-Rebellen eine Bodenoffensive auf mehrere Ortschaften östlich und südlich von Tel Rifaat. Bislang ist die Offensive noch nicht erfolgreich. Es ist bekannt, dass die Türkei erste Panzer und Panzerfahrzeuge nach Mare entsandte, um die Offensive zu unterstützen.
Dabei spielt die geografische Bedeutung der Stadt im Rahmen strategischer Erwägungen militärischer Bewegungen eine zentrale Rolle. So durchzieht Tel Rifaat eine Autostraße, die die Türkei mit der ehemaligen Metropole Aleppo verbindet, wo über 8,000 Rebellen operieren. Eine Eisenbahnstrecke mit gleicher Route schließt sich an. Noch 2004 lag die Bevölkerungsgröße der Ortschaft bei 20,000 Menschen.
Mit Beginn des Bürgerkrieges übernahm die Freie Syrische Armee die Kontrolle über Tel Rifaat. Die Stadt entwickelte sich zum wichtigen logistischen Knotenpunkt entlang der Versorgungsroute Türkei-Aleppo. Durch Tel Rifaat wurden Lebensmittel und Verteidigungsgüter nach Aleppo transportiert. Obwohl die Stadt für kurze Zeit in die Hände der IS-Terroristen geriet, konnten die moderaten Rebellen Tel Rifaat im Laufe des Jahres 2013 wieder befreien.
Tel Rifaat ist eine Hochburg moderater Oppositioneller, die sowohl den IS, die al-Assad-Armee, als auch die marxistisch-leninistische YPG bekämpfen. Bei Waffenstillständen, die stets von kurzer Dauer waren, demonstrierte die Lokalbevölkerung regelmäßig in den Farben der Freien Syrischen Armee.

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Die Mehrheitsbevölkerung von Tel Rifaat ist mehrheitlich sunnitisch-arabisch geprägt. Eine kleine Minderheit stellt sich aus Turkmenen und Kurden zusammen. Dieser Umstand ist im syrischen Bürgerkrieg bedeutsam, da sich dieser nicht zuletzt entlang konfessioneller und ethnischer Sollbruchstellen abspielt.
Die Kehrtwende für die FSA-Präsenz begann im Februar dieses Jahres. Assadtreue Regierungstruppen begannen gemeinsam mit Schiiten-Kämpfern und der russischen Luftwaffe eine Offensive auf die eingekesselten Alawiten-Hochburgen Nubl und Zehra. Dabei rückten die Einheiten von der Umklammerung in Aleppo-Stadt nach Westen. Das führte dazu, dass die Armee mit Hilfe russischer Luftüberlegenheit, die Versorgungsroute der Rebellen in Aleppo nach Tel Rifaat kappte.
Der Faktor YPG machte diese Offensive allerdings erst möglich. Während die syrische Armee auf die Alawiten-Städte vorrückte, erhielten die Kurden-Kämpfer russische Luftunterstützung. Angesichts der militärischen Übermacht kollabierten die Verteidigungslinien der FSA-Rebellen und die YPG rückte in Tel Rifaat und Minnig ein. Türkische Artilleriesalven, die einsetzten, konnten das Ergebnis nicht mehr rückgängig machen.
Die konzentrierte Offensive der Achse Assad-Russland-YPG führte dazu, dass die 100.000 bis 150.000 Zivilisten der Region an die türkische Grenze bei Bab el-Salamah flüchteten. Tel Rifaat gilt heute als eine Geisterstadt, die von der YPG gehalten wird. Menschenrechtsorganisationen und Kritiker sprachen von Praktiken der YPG, die unmissverständlich an „ethnische Säuberung“ erinnern. Da die YPG eine in der Regel auf Kurden ausgerichtete Miliz ist, kommt es mit arabischen oder turkmenischen Bevölkerungsschichten zwangsweise zu Komplikationen, bei denen die Zivilbevölkerung das Nachsehen hat.
Der Verlust von Tel Rifaat zwang auch die Türkei dazu, ihre logistische Unterstützung in militärischen Fragen an wichtige Rebellengruppierungen in der Aleppo-Region, darunter die religiös-konservative Ahrar el-Scham-Organisation, zu überdenken. Ankara verlegte den Nachschub vom Grenzübergang Bab el-Salamah nach Bab el-Hava, der an die türkische Provinz Hatay grenzt.
Unterm Strich ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die YPG einen Puffer der syrischen Armee gegen die FSA zur Isolierung Nordsyriens von Rest-Aleppo darstellt. Das strategische Verhalten der YPG bestätigt die Annahme, dass die YPG auch im Namen der Regierungstruppen Assads Tel Rifaat unter allen Umständen halten wolle, um die Einkesselung von Aleppo-Stadt langfristig zu ermöglichen. Experten der Region schließen nicht aus, dass die YPG – wie von der syrischen Armee bereits angedroht – im Falle einer ernsten Bedrohung wieder auf Luftunterstützung aus Damaskus oder Russland  spekulieren dürfte. Frontkontakt der syrischen Armee mit der türkeigedeckten FSA könnte die Stellung Assads in Aleppo-Stadt in Frage stellen. Spannungen zwischen Ankara und Damaskus könnten sich unter diesem Eindruck deutlich verschärfen.
Für die YPG bedeutet der Verlust von Tel Rifaat auch das endgültige Aus für die Schaffung eines PKK-nahen unabhängigen kurdischen Staates auf syrischem Boden. Dafür müsste die YPG die drei kurdischen Kantone Efrin, Kobani und Dschesira miteinander geografisch verbinden. Dieser Schritt könne nicht ohne einen Ausbruch von Tel Rifaat nach Osten umgesetzt werden.

 


Erschienen bei unserem Kooperationspartner Eurasianews